Datum: 3. Januar 1983 Betr.: 1984
Georg Orwell hätte das Buch auch „2000“ nennen können.
Oder „1983“. Weil er es 1948 schrieb, verfiel er auf „1984“
– der Roman verdankt seinen Titel einem Zahlenspiel.
Der Roman wurde zu einem Jahrhundertbuch, sein Titel eine klassische Prägung
wie die Morus-„Utopia“, und aus dem Spiel ist Ernst geworden. Seit
„1984“ sieht eine von Orwell belehrte Welt dem wirklichen 1984 als
einem ominösen Datum entgegen. Längst ist sichtbar: Die Zukunft, die
Orwell mit so nachhaltigem Welterfolg aus- und schwarzgemalt hat, diese Zukunft
des „Großen Bruders“, des allgegenwärtigen, alles kontrollierenden
Staates, sie hat schon begonnen.
Negative Utopien, wie die von Orwell oder auch die „Schöne neue Welt“
seines Landsmannes Aldous Huxley, sind in all ihrem Pessimismus immer auch Warnungen,
die das Wahrwerden der düsteren Visionen abwenden sollen. So ist 1983,
mit Blick auf „1984“, das Orwell-Jahr.
Orwells Buch gehört zu den Bestsellern des vergangenen Jahres (siehe Seite
127). Die Frankfurter Buchmesse hat sich „1984 – der Mensch in der
verwalteten Welt“ zum „Schwerpunkt-Thema“ gesetzt.
Ein Jahr vor 1984 – das hat etwas von fünf vor zwölf. In seiner
Titelgeschichte (Seite 19) zeigt Spiegel-Redakteur Werner Meyer-Larsen au, was
von Orwells (und Huxleys) Schreckenvisionen wahr geworden ist, was demnächst
wahr werden könnte und was sich so verdeckt eingeschlichen hat, dass es
vielen noch nicht als bedrohlich auffällt: „Da driftet selbst ein
liberal verfasstes Gemeinwesen in das unsichtbare Netzwerk von Elektronik und
Überwachung, Reglementierung und Manipulation.“
Der „Große Bruder“ steckt im Detail, auch in diesem: Just
1984 werden die Bürger der Bundesrepublik neue, EDV-gedruckte Personalausweise
erhalten – abtastbar von elektronischen Geräten der Polizei und des
Zolls, die allesamt mit dem Zentralcomputer des Bundeskriminalamts verbunden
sind.
Die neue Welt von 1984
Georg Orwell hat im Jahre 1948 das Buch „1984“ geschrieben. Seine
Vision vom totalen Überwachungsstaat ist der Wirklichkeit sehr nahe gerückt.
Der gläserne Mensch ist da, seine Daten sind gespeichert. Der technisch
perfekte Überwachungsapparat harrt seines politischen Missbrauchers: 1983
ist „1984“
Die Gefahren des „großen Bruders“ sind nicht mehr bloß
Literatur. Sie sind nach dem heutigen Stand der Technik real.
Horst Herold, bis 1980 Präsident des Bundeskriminalamtes
Der Countdown läuft zwölf Monate. Dann ist 1984, und George Orwell
(1903-1950) wird der Mann des Jahres sein.
Zwölf Monate noch trennen die Menschheit, die östliche und die westliche,
von jenem magischen Datum, das die Vollendung einer menschenfeindlichen, nur
noch totalitären Überwachungsgesellschaft beschreiben soll.
Dreieinhalb Jahrzehnte lang werden dann Kulturkritiker und Soziologen, Politiker
und Ökonomen, Konservative, Sozialisten und Liberale auf die magische Zahl
84 gestarrt haben – eine Zahl, die mehr aus Zufall entstanden war: durch
die Umkehrung des Jahres 48 im 20. Jahrhundert, jenes Jahres, in dem Orwell
sein Buch „1984“ geschrieben hat.
Dreieinhalb Jahrzehnte lang geistert nun jene Vision umher, die Unheimliches
mit schierer Verzweiflung paarte, die eine lebensfeindliche Welt beschrieb,
in der dennoch gelebt werden musste, in der Apparate über die Menschen
und in der ein Großer Bruder über die Menschheit herrschte –
„Big Brother is watching you“.
Der Roman „1984“, als Warnung gedacht und als Satire geschrieben,
war zur Chiffre geworden für alles, was die Welt an Totalitarismus und
Personenüberwachung, an Gesinnungsterror und Bürokratie, an amtlicher
Verlogenheit und Manipulation der geschichtlichen Wahrheit, an psychischen Schrecknissen
und verletzter Menschenwürde, an Vernichtung von Liberalität und Persönlichkeit,
ob Liebe oder Religion, erfunden hat.
Eine Chiffre deswegen, weil vieles von Orwells Visionen in Ansätzen längst
vorhanden, oft schon erprobt, öfter schon von der Wirklichkeit überholt
ist. Weil manches bei genauem Hinsehen schrecklicher scheint als die Vision
selbst.
Da ist ein Staat, der elektronische Gerichtsurteile über Verkehrssünder
spricht. Da ist ein Staat, der seine Gegner in psychiatrische Anstalten steckt
wie etwa die Sowjet-Union. Da ist ein Staat, der Terroristen mit Rasterfahndung
verfolgt und dadurch Tausende von harmlosen Bürgern in Verdächtigtenkarteien
bringt wie die Bundesrepublik Deutschland.
Da ist ein Bürger, der Krankenkassenformulare ausfüllt und dessen
Daten von Stund an zentral gespeichert sind. Da ist ein Bürger, der sein
Auto bei der Zulassungsstelle anmeldet und wiederum gespeichert ist. Da ist
ein Bürger, dessen Sozialversicherungspflicht ihn in die nächste Datenbank
bringt.
Und so geht es weiter: Wenn einer auf der Bank Kredit will – schon ist
er gespeichert. Wenn er sich im Hotelfoyer einträgt, im Buchklub, bei der
Lebensversicherung – alles ist gespeichert, gespeichert, gespeichert.
Gespeichert in alle Ewigkeit? Wie weit ist schon System geworden, was an Überwachungstechnik
möglich, was an Datenverbreitung vorhanden ist? Wo muss der Staat nach
seinem Selbstverständnis überwachen? Sind die angeblichen großtechnologischen
Zwänge, repräsentiert durch Atom- und Rüstungsindustrie, schon
der Ansatz zum gefürchteten Totalitarismus à la 1984 – auch
dort, wo liberale Verfassungen noch erfüllt zu sein scheinen?
Welche Orwell-Zwänge, die der Ahnherr des Jahres 1984 selbst gar nicht
gesehen hat, belästigen die Menschheit bereits? Sind sie wirklich schon
schlimmer als in der grausigen Vision? Ist vieles nur erträglich, weil
es nicht angewendet wird oder weil die Anwendung unbemerkt bleibt?
1984, das Jahr, ist auf der ganzen Welt zur Chiffre geworden auch für jene
Formen der Science-fiction, die den totalen Staat und seine totale Technik zum
Thema haben, zum Sinnbild für einen Literaturtyp, der den durch staatliche
und technische Totalität beherrschten Menschentyp beschreibt. Einen Menschen,
dem die Freiheit abhanden gekommen ist, der in steten Verhaltenszwängen
lebt und eigentlich keine Chance mehr hat. 1984 ist – oft herbeigeredet,
aber oft auch erfüllt – der Schlüsselbegriff für eine beängstigende
Welt geworden.
Literaten, Verlagsherren und Buch-Konsumenten hatten das längst geahnt.
Seit dem vergangenen Jahr ist das Buch „1984“ wieder ein Bestseller.
Amerikanische Magazine wie „Harper`s“ („If Orwell were alive
today“) und „The New Republic“ („Was Orwell right?“)
kämmen schon Anfang 1983 das Thema 1984 ab. Bestseller-Autor Ed L. Doctorwo
(„Ragtime“) schreibt im „Playboy“ über Vision und
Wirklichkeit von 1984 („On the brink of 1984“). Sie alle ernennen
1983 und nicht erst 1984 zum eigentlichen Jahr des George Orwell.
Das US-Nachrichten-Magazin „Time“ bringt zum ersten Male in seiner
Geschichte nicht mehr eine Einzelpeson als Mann des Jahres, sondern den Computer
als beherrschende Figur: Kaum dass die letzten zwölf Monate vor dem magischen
Jahr begonnen haben, ist das Jahr des Großen Bruders Gegenwart.
Der Roman „1984“ war entstanden aus Berichten über das Sowjet-System
und den Hitler-Staat. Er ist nachempfunden dem schon 1921, ein Jahr vor Gründung
der Sowjet-Union geschriebenen Roman „Wir“ des russischen Schriftstellers
Jewgenij Samjatin, der aus den revolutionären Anfängen des Bolschewismus
genial den totalen Staat Stalins vorhergesehen hatte.
„1984“ ist außerdem entstanden aus den Berichten europäischer
Kommunisten, die später Abtrünnige des Systems geworden sind, wie
denen des Schriftstellers Arthur Koestler, mit dem Orwell befreundet war. Das
Buch Orwells, der selbst ein linker Literat war, ist so gesehen unter einem
einseitigen Aspekt geschrieben. Doch die Symbolzahl 1984 ist unversehens über
diese Begrenztheit hinausgewachsen.
1984, das Jahr, wurde auf solche Weise auch Chiffre eines zweiten literarischen
Welterfolgs: des Romans „Schöne neue Welt“ von Aldous Huxley,
gleichfalls einem Briten, der die Strukturen seiner Zeit zu ihrem grässlich
logischen Ende gedacht hat.
Bei Huxley, der nicht die Herrschaft der Gewalt, sondern die der sozialen Anästhesie
beschreibt, ist Komfort das Credo einer Gesellschaft, die ein Weltstaat ist.
Bei Orwell sind es Ärmlichkeit, Kohlgeruch und schindender Wohlstand.
Der Sozialist Orwell beschreibt schlicht die vom Sowjet-System abgeleitete totalitäre
Welt von Entbehrung und Terror. Aldous Huxley beschreibt mit technischer Phantasie
eine bis in die perfekte Menschenzüchtung vorgeschrittene totale Welt vom
Komfort und seelenlosem Frieden. Orwells Variante ist die östliche, Huxleys
mag die westliche sein, und beide haben sich unter dem Begriff 1984 zu einem
globalen Schreckensbild vereint.
Das Schreckensbild ist in Teilen Realität geworden. Der östliche Mensch
hat seine inneren Barrieren gegen den totalitären Staat gebaut und hofft
auf kleine Freiheiten durch große Anpassung. Der westliche Mensch lebt
mit den Umständen, solange liberale Verfassungen, auch liberal gehandhabt,
ihn noch schützen können. Die Bedrohung, Marke 1984, bleibt aber bei
beiden.
Bedrohlich fortentwickelt etwa ist Orwells außenpolitische Vision um die
Dreiteilung der Welt. Der Romancier trennt die Welt in drei große Machtblöcke
„Ozeanien“ (Nord- und Südamerika, Australien, das südliche
Afrika sowie Großbritannien, das nur noch „Luftstützpunkt Nr.
1“ heißt), Eurasien (die Sowjet-Union und das Kontinentale Europa)
und Ostasien. Das nördliche Afrika ist nach den Ideen Orwells wechselnd
in eurasischer und ozeanischer Hand. Es wird als ständiger Kriegsschauplatz
beider Blöcke verwendet. Sämtliche drei Supermächte sind totalitär.
Die beiden echten Supermächte von 1984, USA und UdSSR, tragen im afrikanischen
Raum, freilich auch in Asien, tatsächlich ihre frivolen, dem außen-
wie dem innenpolitischen Gebrauch dienenden Kriege aus. Allein die dritte Großmacht,
Ostasien, wird im richtigen Jahr 1984 kein äußerlich geschlossener
Block sein.
Orwells Behauptung aber, Großbritannien sei 1984 Ozeaniens Luftstützpunkt
Nr. 1, rückte Ende 1982 auf schauerliche Art in die Nähe der Wahrheit:
durch die Nachricht, die Nato wolle ihr Hauptquartier im Konfliktfall nach Großbritannien
verlegen, weil Deutschland, sprich Kontinentaleuropa, bei einem Atomkrieg nicht
mehr zu halten sein werde.
Bedrohlich fortentwickelt auch sind die Techniken der totalen Überwachung.
Bei Orwells Romanhelden Winston Smith liest sich das so:
Der Televisor war gleichzeitig Empfangs- und Sendegerät. Jedes von Winston
verursachte Geräusch, das über ein leises Flüstern hinausging,
wurde von ihm registriert. Außerdem konnte Winston, solange er in dem
von der Metallplatte beherrschten Sichtfeld blieb, nicht nur gehört, sondern
auch gesehen werden...
Über solche Primitiv-Techniken des Terrors können Überwachungsfachleute
im wirklichen Jahr 1984 nur lächeln. Schon 1983 steht ein ganzes Arsenal
unauffälliger Überwachungs-Instrumente zur Verfügung, an das
auch Privatleute herankommen. Bei gezielt massivem Einsatz solcher Geräte
ist jeder Bürger überall aufspürbar und abhörbar. Sogar
seine Bewegungen lassen sich übertragen. Der japanischen Kunst von Verkleinerung
und Verfeinerung elektronischer wie optischer Apparate sei Dank:
In kleinen Diplomatenkoffern können komplette Bildaufnahmegeräte stecken,
die durch ein unauffälliges Loch Bild und Geräusche von Unterhaltungen
bei Tisch auf einen fernen TV-Schirm übertragen. Auch für Spionage
in freier Natur sind die Köfferchen geeignet. Noch auf mehrere hundert
Meter Distanz melden sie übers Fernsehen, was die beschatteten Personen
tun und reden.
Parabolspiegel mit Richtmikrophonen können bis zu 500 Meter Entfernung
jeden Ton auffangen und konservieren. Auf Moskaus Kaufhaus “Gum”
stehen sie zum Beispiel, um Gespräche auf dem Roten Platz vor der Kreml-Mauer
abzuhören.Kohlemikrophone – ohne Batterie – können durch
zwei bis drei Meter dicke Betonwände jeden Ton aufnehmen. Eine Weiterentwicklung
dieser Technik durch die Firma Siemens soll den Üertragungen die Qualität
eines normalen Telephongesprächs verleihen. Telephongespräche, die
über Satelliten geführt werden, lassen sich mit Spezialantennen anzapfen,
wenn die Nummer des Empfängers bekannt ist. Auch wer sich den teuren Luxus
eines Auto-Telephons leistet, kann über Funk angepeilt und mühelos
abgehört werden.
Sogar durch dicke Glascheiben lassen sich Gespräche in Wohnungen oder Büros
über 50 bis 100 Meter Distanz aufzeichnen. Jedes Wort im Raum versetzt
die Außenscheiben in bestimmte Schwingungen. Diese Schwingungen können
von Spezialgeräten aufgenommen und in lebendige Sprache zurückübersetzt
werden.
Wer eine beliebige Polizeistation anruft, muß neuerdings schon damit rechnen,
daß der Polizist in der Leitung bleibt, auch wenn der Anrufer längst
aufgelegt hat. Auf der Wache kann weiter mitgehört werden, was in der Wohnung
des scheinbar längst ausgeklinkten Anrufers geredet wird.
Gute Gelegenheit, über das Telephon zu schnüffeln, bietet auch die
sogenannte Harmonium-Wanze. Sie muß vorher nur in den Telephonhörer
des Beschnüffelten gesteckt werden, dann geht alles ganz leicht: Der Überwachte
wird angerufen, und sowie er den Hörer abgenommen hat, genügt ein
800-Hertz-Pfeifton, um die Wanze zu aktivieren.
Der Angerufene hält das ganze für eine falsche Verbindung und legt
wieder auf. Von diesem Moment an leitet der aufgelegte Hörer alles, was
im Raum gesprochen wird, über die normale Telephonleitung zum Schnüffler,
der die Wanze durch einen ähnlichen Pfeifton dann wieder “abstellen”
kann.
Solche Technik ist jener des Orwell-Staates weit überlegen. Dort war der
Televisor zumeist klar sichtbar, die Krux war allerdings, daß der Betroffene
ihm nicht ausweichen konnte. Die neuere Schnüffeltechnik kommt ohne das
Mitwissen des Beschnüffelten aus.
Unlösbar verbunden mit organisierter Menschenüberwachung ist die elektronische
Aufzeichnung der Daten. In Orwells System ist über jeden alles bekannt.
Der Mensch ist gläsern. Aber gläsern ist er auch schon der westdeutschen
Wirklichkeit.
1979 schon sollen rund neun Millionen westdeutsche Bürger in geheimen Datenbanken
erfaßt gewesen sein. 1982 könnte es schon die Mehrheit des Volkes
sein.
Denn wo überall müssen nicht persönliche Angaben hinterlassen
werden? Auf dem Krankenschein, bei der Sozialversicherung, bei der Zulassungsstelle
für Automobilde, im Hotel, im Buchklub, bei der Bank, bei der Lebensvresicherung,
auf der Aufnahmestation des Krankenhauses und gelegentlich sogar im Foyer großer
Unternehmen. Niemand, der sich im Lande bewegt, entrinnt mehr einer Datenbank.
Damit allein schon können Daten über Personen auf den Markt geraten,
die ganz harmlos ihren täglichen Besorgungen nachgehen, ohne mit der staatlichen
Macht in Kollision zu geraten oder ihr zu dienen. Personen also, die allenfalls
das Einwohnermeldeamt oder die Finanzbehörde etwas angehen. Denn Datenbanken
sind anzapfbar, es kommt nur auf den Preis an.
Ganz offiziell zur Verfügung stehen Daten von Bürgern, die mit dem
Gesetz in falsche Berührung geraten sind – etwa weil sie zur Unzeit
oder am verkehrten Ort geparkt haben. Nicht nur in die Flensburger Verkehrssünder-Kartei
gerät jemand dann rasch hinein, auch gleich in die Polizei-Akten, die angeblich
um die 15 Millionen Fälle in Deutschland speichern.
Sowie der Deutsche die Grenzen der Republik verlät, sind neue Aufzeichnungen
fällig. Schon das Paßamt besitzt seine Daten. Wenn es ernst wird,
muß der Paß an der Grenzstation elektronisch betastet werden, und
schon ist heraus, wo die betreffende Person sich gerade befindet. Wenig später
kann der Staat über den internationalen Datenaustausch oder den Computer
der Lufthansa wissen, wohin jeman geflogen ist. Bei der Lufthansa selbst stehen
inzwischen 8.300 Bedienstete in “sicherheitsempfindlichen Bereichen”
zur Prüfung durch den Verfassungsschutz an.
Ohne Schutz vor dem Tausch gespeicherter Daten, vor dem leichtsinnigen Umgang
mit solchen Angaben wäre der Bürger vogelfrei. Aus dem Netzwerk der
Angaben, die er beim Arzt, bei der Versicherung, bei der Polizeikontrolle, an
der Grenze, beim Buchklub, im Hotel, beim Finanzamt, beim Sportverein und sonstwo
hinterlassen hat, könnte eine totale elektronische Bürokratie zu jeder
Person ein Dossier fertigen, das auch die persönliche Vermögenslage
und die typischen Begleitpersonen wie Freundinnen und Geschäftspartner
mit einbezieht.
Wie von selbst würde bei dieser Verbindung von Daten mancher verdächtig,
der rein zufällig bestimmte Kriterien erfüllt, die auch auf einen
gesuchten Verbrecher zutreffen. Unversehens kommt eine unschuldige, ganz und
gar unverdächtige Person in den Polizeipeicher hinein, und allein das schon
kann Grundlage neuer Mißhelligkeite werden.
Ähnlich fatal wie das staatliche Datennetzwerk ist das private. Zwischen
den Personalabteilungen großer Unternehmen findet schon längst ein
Austausch wohlfeiler Bewerbedaten statt. Wer bei einem bestimmten Kriterium
Minuszeichen besitzt, etwa dreimal geschieden ist oder irgendwann vielleicht
schuldhaft einen Verkehrsunfall gebaut hat, ist gezeichnet “Saubere”
Bewerber sind ihm vorzuziehen, selbst wenn sie dümmer sind.
Als schlimme Vorbelastungen gelten auch gelegentliche Besuche politischer Demonstrationen
oder Veranstaltungen überwachter Gruppierungen. Dort werden nicht nur Daten
erfaßt, dort wird auch photographiert.
Die Photographie sagt zwar nichts über den Grund des Besuches aus. Es kann
reine Neugier gewesen sein, eine Eigenart, von der die schöpferische Phantasie
lebt. Aber zehn Jahre später kann diese Photographie einem Bewerber im
öffentlichen Dienst zum Verhängnis werden.
Grund genug für große Gruppen, sich anpasserisch zu geben und auf
Kritik an Institutionen zu verzichten. Die freiwillige Unterordnung unter totalitäre
Verhaltensweisen, schädlich für die demokratische Gesellschaft, beginnt
schon hier.
Obgleich die demokratische Gesellschaft dennoch Gelegenheit gibt, das Datennetz
zu unterlaufen oder zu ignorieren, ist wirklicher Schutz gegen Datenmißbrauch
kaum noch möglich. Weil Datenbanken anzapfbar sind, die aus ihnen geholte
Informationsware kommerziell gehandelt werden kann, sind plötzlich Intim-Kenntnisse
über Mitbürger auch in privater, von niemand mehr kontrollierbarer
Hand frei verfügbar für Freund und Feind.
Schon der reinen Informationsflut wegen stehen die Datenschützer des Bundes
und der Länder auf fast verlorenem Posten. Nun aber sollen ihnen auch noch
Befugnisse genommen werden. Bonns Innenminister Friedrich Zimmermann hat das
für die Legislatur nach dem 6. März fest eingeplant. Und Generalbundesanwalt
Kurt Rebmann hat es in der Zeitschrift “Kriminalistik” so ausgedrückt:
“Sicherheit geht vor Datenschutz – nicht umgehekehrt” .
Baden-Württembergs Ministerpräsident Lothar Späth, der gerne
als moderner Biedermann auftritt, machte schon den Anfang: Die Polizei darf
im Ländle Dateien anlegen, ohne sie noch beim Datenschutzbeauftragten registrieren
zu lassen. Umgekehrt darf der Datenschützer keine Einsicht in Akten und
Unterlagen mehr nehmen, “die im Zusammenhang mit der Verarbeitung personenbezogener
Daten stehen”. Und zwischen den staatlichen Dienststellen darf ungehemmter
Datenaustausch walten.
Datenschützer und Bürger sind nach diesen Gresetzen machtlos, wenn
eine Administration es will. Sie sind abhängig geworden vom guten Willen
der Regierung und der Verwaltung. Aber guter Wille ist kein Verfassungsbestandteil,
und der Perfektionismus der Behörden ist nun einmal grenzenlos. So entstehen
dann Register über Krebskranke und Patienten psychiatrischer Kliniken,
über Studenten und über Selbstmordgefährdete.
Manche von ihnen, so etwa das Krebsregister, sollen dem allgemeinen Datenschutz
aus wissenschaftlichen Gründen entwunden werden. Doch wer wird sich die
Daten besorgen? Ob wohl jemand, der in ein Krebsregister geraten ist, noch Aussicht
hätte, einen langfristigen Arbeitsvertrag abzuschließen?
Totale Wahrheit, gespeichert in Daten, ist oft nur eine besondere Form der Unwahrheit.
Ihre Kehrseite ist im Orwell-Muster die totale Lüge. Das “Ministerium
für Liebe” ist in Wahrheit ein Gebäude-Komplex, in dem gefoltert
wird. Das “Ministerium für Wahrheit” gilt bei Orwell als Zentrale
zur Verfälschung der Geschichte.
Genau nach diesem Muster werden im kommunistischen Machtraum traditionell Propaganda-Lügen
vom Informationsministerium verbreitet. Und je nachdem, welcher Diktator gerade
herrscht oder mit welchem Staat gerade gute Beziehungen anstehen, wird die gesamte
Geschichte diesen Zwecken zuliebe neu verfaßt.
Über Leonid Breschnews Vorgänger Nikita Chrutschtschow sind die Nachrichten
im Sowjet-Reich rar. Sein Grab darf neuerdings nicht mehr besichtigt werden.
Dagegen werden in der DDR etwa Martin Luther, der den Feudalfürsten zugetane
Religionstifter, und der großbürgerliche Johann Wolfgang von Goethe
als Wegbereiter des Sozialismus gefeiert. Der Zweck, die Heroen der deutschen
Geistesgeschichte für sich zu reklamieren, heilt die Mittel.
Auch in demokratischen Staaten gibt es Verfälschungen solcher Art. Sie
liegen oft in Wortschöpfungen, mit denen gesellschaftlich umstrittene Taten
des Staates verharmlost werden sollen. Da ist die Rede von Entsorgungsparks,
wenn es um die Lagerung des strahlenden Atom-Mülls geht. Das heißt
es Lohnpause, wenn von Einkommensschmälerung die Rede ist, und da heißt
es Peacemaker, wenn höchste Kriegstechnik gemeint ist. Da hatte ein amerikanisches
Atom-U-Boot gar “Corpus Christi” heißen sollen, bevor es dann
“City of Corpus Christi” hieß.
Die elektronischen Medien sind zur Verbreitung verfälschender
Nachrichtensprache besonders dienlich. Sie können, glasfaserverkabelt,
nicht nur speichern und überwachen, sie können, ebenso wie der Televisor
des Winston Smith, Nachrichten senden, die im Grunde gesellschaftliche Befehle
sind.
Im demokratischen System übernehmen sie die Aufgabe ablenkender Berieselung
und Anästhesierung, im totalitären die der schieren Propaganda. Sie
treffen sich hier wie dort in ihrer endlichen Wirkung: dem berieselten Menschen
das eigentlich Nötige abzunehmen – das Denken.
Der Mensch als kritisch-denkendes Wesen, der Staat als Festung freiheitlicher
Bräuche, die Staatenwelt als Gemeinschaft friedlichen und monchalanten
Zusammenlebens. Dieses waren die hohen humanen Ziele, als Aufklärung, industrielle
Revolution und Demokratie ein neues Zeitalter schufen. Sind sie im Orwell-Jahr
1984 bedroht?
Was war schlimmer bei Orwell, was ist schlimmer als bei Orwell? In der Welt
der Visionäre war das Leben in den Staaten total organisert und ohne Freiheitsräume.
Ohne Hoffnung auch. Aber Konflikte zwischen den Völkern besaßen keinen
hohen Stellenwert, waren fast schon Nebensache.
Aldous Huxley, dessen Romanhandlung 600 Jahre in die Zukunft verlegt wird, kannte
schon keine Staaten mehr, sondern nur die eine Weltregierung, beherrscht durch
den Welt-Aufsichtsrat. Ideologischen Zwist konnte es da nicht geben. George
Orwells drei Superstaaten waren sich so ähnlich, daß ideologischer
Streit, Religionskrieg also, nicht stattfinden konnte und um Rohstoffe kein
Konflikt war, denn jeder konnte sich selbst versorgen. Die Tötungstechnologie
war deshalb vergleichsweise unterentwickelt.
In der wirklichen Welt von 1984 aber gibt es zwar die geweissagten Supermächte,
doch gehorchen sie verfeindeten gesellschaftlichen Systemen. Obwohl das wirkliche
Ozeanien (USA, Westeuropa) und das wirkliche Eurasien (UdSSR, Osteuropa) gemeinsame
Traditionen besitzen und sich auch in der Grundlage ihrer Systeme, dem Materialismus,
ähneln, haben ihre weltanschaulichen Unverträglichkeiten die Qualität
von Religionskriegen gewonnen.
Da in Ost und West unterschiedliche Heilslehren verkündet werden, gerät
jeder Konflikt in die Nähe der Systembedrohung. Ost und West reagieren
darauf mit hochgeschraubter Kriegstechnologie.
Die gibt es zwar auch bei Orwell. Dort mühen sich ozeanische Wissenschaftler
um die “Auffindung eines Verfahrens zur Tötung von mehreren hundert
Millionen Menschen in ein paar Sekunden ohne vorhergehende Warnung”. Andere
wollen “ein Fahrzeug konstruieren, das sich unter der Erde wie ein Unterseeboot
unter Wasser fortgewegt”. Aber Gedanken über Waffensysteme bleiben
ein Nebenaspekt. In der gegenwärtigen Welt, ein Jahr vor 1984, ist Orwell
nur eine Art Jules Verne.
Schon vor Jahren haben die Amerikaner Orwell da übererfüllen wollen.
Unter den Wüsten von Utah und Nevada hatten sie ein Silo-System bauen wollen,
in dem ständig 200 Groß-Raketen und eine Unzahl Raketenattrappen
hin und her geschoben werden sollten. Daß die Sowjets ähnliche Unterwelt-Projekte
betreiben, ist so gut wie sicher.
Seit 1981 besitzen die USA die riesigen 18.700-Tonnen-U-Boote der “Ohio”-Klasse,
die im getauchten Zustand auf einen Schlag 24 Langstreckenraketen mit je acht
Atom-Sprengköpfen der achtfachen Hiroshima-Stärke abschießen
können. Rein rechnerisch kann jedes dieser See-Ungeheuer damit 190 Großstädte
auf einen Schlag auslöschen.
Militärisches Gleichgewicht und die Möglichkeiten des Overkill haben
Kriege zwischen den Supermächten bisher verhindert. Der ideologische Kriegsgrund
aber besteht weiter. Bei Orwell gibt es ihn nicht. Die bei Orwell erkennbare
Ratio der Herrscher in Sachen Krieg hat zwar auch die beiden Supermächte
des wirklichen Jahres 1984 in Zaum gehalten, doch hält die dritte Staatenwelt,
bei Orwell Ostasien genannt, die Option des Krieges offen.
Von der Welt des Nahen Osten ist die westliche abhängig, weil nur dort
das Schmiermittel westlicher Industriekultur, das Erdöl, in reichlichem
Maße zu haben ist. Zumindest die religiösen Eiferer Chomeini und
Gaddafi sind noch immer gut für Überraschungen, die Amerikas Streitmacht
einer militärischen Aktion nahebringen. Bricht sie aus, sind die Gleichgewichts-
und Sicherheitssysteme auch zwischen Nato und Warschauer Pakt gestört.
Einmal ausgebrochen, schließen ideologische Kriege, die um den Sieg eines
Systems gehen, jede Vernunft aus.
Die außenpolitische Lage mithin ist verzwickter, gefährlicher, düsterer
als im Orwellschen Modell. Und sie hat ihre deutlichen Reflexe auf das innenpolitische
Klima. Hüben wie drüben, in jedem Machtblock, wird die Gefahr von
außen als Disziplinierungsmittel nach innen benutzt.
Daß totalitäre Staaten Gegner ihres Systems ausmerzen, ist eine alte
Weisheit. Daß unter dem echten oder eingebildeten Außendruck auch
demokratische Systeme semi-totalitär werden können, ist neu.
Den Einparteien-Systemen der totalitären Welt stehen dort zwar Mehrparteien-Systeme
gegenüber, doch gibt es hier wie da kaum eine Duldung von Gruppen, die
das System selbst abschaffen, vielleicht nur verändern wollen. Gegen sie
richtet sich auch in den Demokratien die volle Macht und Finanzkraft des elektronischen
Staates. Das simple Beispiel dafür ist der Sonnenstaat des Doktor Herold.
Horst Herold, inzwischen pensionierter Präsident des Bundeskriminalamtes,
ist der Erfinder des Systems der Rasterfahndung, die nur auf elektronische Weise
geschehen kann. Auslöser seines Personenverfolgungssystems war die Terrorismus-Welle,
der 1977 Prominente wie Generalbundesanwalt Siegfried Bubach, Bankier Jürgen
Ponto und Arbeitgeberpräsident Hans-Martin Schleyer zum Opfer gefallen
waren.
Um den Ring der Rote Armee Franktion (RAF) zu sprengen, baute Herold in Wiesbaden
computergesteuerte Fahndungsnetze auf, in deren Stricken sich nebenher Tausende
von harmlosen Mitbürgern verfingen, weil sie etwa in Hochhäusern wohnten,
selten anzutreffen waren, zwischen 25 und 35 Lenze zählten und gelegentlich
so vermessen gewesen sind, sich bei Hertz oder Avis einen Personenwagen auszuleihen.
Weil sie sich eben verhielten wie die auf Unauffälligkeit bedachten Terroristen.
Im Hintergrund der Systemfahndung stehen jene Datensysteme, von denen fast jeder
westdeutsche Bürger erfaßt wird. Sie hatten sich, der technischen
Entwicklung folgend, seit 1945 fast von selbst aufgebaut und wurden unmerklich
allumfassend. Aus dem Bürgerschutz, den die staatliche Polizeigewalt pflegen
sollte, wurde Schritt für Schritt der Schutz von Staat und Wirtschaft,
von Organisationen, nicht Personen.
Die Prioritäten des liberalen Rechtsstaates drehten sich unter dem Druck
elektronischer Technik um. Es entstand in alter, vordemokratischer Tradition
ein ausgiebig wuchernder Sicherheitsbereich, der Zug um Zug zum Sicherheitsrisiko
für individuelle Freiheit wird – wenn etwa eine totalitär gestimmte
Parteienkonstellation ans Ruder gerät.
Ein schwieriger Sohn EnglandsDas kurze Leben des Schriftstellers George OrwellEin
glücklicher Pfarrer wär`ich vielleicht / vor zweihundert Jahren gewesen”,
erträumte er sich in einem Gedicht. Aber er lebte in den modernen Zeiten
der großen Kriege, Krisen und bluttriefenden Diktaturen, und da er ein
Gerechter war und von einzigartiger Aufrichtigkeit, ergriff er Partei gegen
Gewalt, Unterdrückung und Willkür, für die Erniedrigten und Geschundenen,
für Anstand und Freiheit in einer sich verfinsternden Welt, in der man
“Lügen als Wahrheit, Mord als Wohltat und bloßen Wind als etwas
sehr Solides verkaufte”.
Wenn jedoch “Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann das Recht, den
Menschen zu sagen, was sie nicht hören wollen”, schrieb dieser lange,
dünne Puritaner, dessen Bücher kaum gelesen wurden – bis er
dann doch Gehör fand, bis schließlich doch Erfolg und Wohlstand in
seine Einsamkeit hereinbrachen, aber da war er schon ein moribunder Mann, dem
die Tuberkulose die Lungen zerfraß.
Georg Orwell, Prophet der Schreckenswelt von “1984”, vielzitierter
Autor auch der grimmigen Fabel von der “Farm der Tiere”, ist heute,
33 Jahre nach seinem Tod, der meistgelesene englische Schriftsteller des 20.
Jahrhunderts. Und mit später Bewunderung wird inzwischen auch jener einst
so mißachtete, jener andere Orwell zur Kenntnis genommen (ja hierzulande
überhaupt erst allmählich entdeckt), der in Romanen, Reportagen und
vieles Essays Zeugnis ablegt von seiner Zeit, von den Dekaden der Dreißiger
und der Vierziger, in denen sich Europas Gesicht verändert hat.
Als den bedeutendsten politischen Literaten auf den britischen Inseln seit Jonathan
Swift (1667 bis 1745) hat sein Biograph Bernard Chrick ihn gerühmt; als
unbeugsamen Moralisten, nichts und niemandem und keiner Instanz verpflichtet
außer dem eigenen Gewissen, pries ihn in einer anderen Orwell-Biographie
sein Landsmann Peter Lewis. Eines auf jeden Fall ist er immer gewesen: ein Einzelgänger
und Außenseiter, ein höchst querköpfiger Zeitgenosse, ein schwieriger
Sohn Englands – schwermütig, verschlossen, selbstzerstörerisch,
von stoischer Gelassenheit, voller Widersprüche.
Eric Blair war sein bürgerlicher Name. Britanniens herrschende Klasse hat
ihn hervorgebracht, die feine Schule von Eton ihm zum Snob erzogen und seinen
Akzent geprägt. Und “fünf langweilige Jahre, durchweht von Hörnerklang”,
bis 1927, trug er in Burma des weißen Mannes Bürde, ein junger Polizeioffizier
mit Tropenhelm und Stöckchen, “hin- und hergerissen zwischen Haß
auf das Empire, dessen Diener ich war, und der Wut auf dieses hinterhältige
Gesindel”: “Einerseits hielt ich die britische Kolonialherrschaft
für eine widerliche Tyrannei, andererseits wäre es für mich das
größte Vergnügen gewesen, einem buddhistischen Priester ein
Bajonett in den Bau zu rammen.”
Und so quittierte er mit 24 den Dienst für die Krone und brach aus der
Schicht der Privilegierten, um zu büßen für “eine ungeheuer
drückende Schuld?, um “hinabzusinken, ganz hinab zu den Unterdrückten”,
auf deren Seite er stehen wollte, “und nicht auf der Seite der Tyrannen”
– und es begann, “ganz unten”, in Elend und Hunger, in Dreck
und Gestank, die beschwerliche Karriere des Schriftstellers Georg Orwell.
Unter den Abgewrackten, den Lumpensammlern, Huren und Clochards von Paris, wo
er sich als Tellerwäscher durchschlug, hat sie begonnen, und mit Streifzügen
durch die Slums und den Latrinen-Mief der Nachtasyle Londons. Down and Out in
Paris and London” nannte er sein erstes Werk. Das 1933 erschien, unbeachtet
wie seine folgenden Romane. Er glaube nicht, meine Orwell, daß er “je
ein erfolgreiches Buch schreiben werde”.
1936, zur Zeit der großen Drepression und Massenarbeitslosigkeit, reiste
er im Auftrag und mit Vorschuß des Verlegers Victor Gollancz in die Industriegebiete
Nordenglands, zu den Kumpels von Landcashire und Yorkshire.
Es war Orwells erste Begegnung mit der Arbeiterklasse, mit der er sich gern
verbrüdert hätte, nur: Ganz in der Nähe bekannte er in seiner
Sozialreportage “Der Weg nach Wigan Pier”, fand er den “Schweiß
der Unterschicht” ziemlich ekelhaft; denn “das war es, was man uns
beigebracht hatte – ein Arbeiter stinkt”.
“Es genügt nicht, einem Proletarier auf die Schultern zu klopfen
und ihm zu erklären, er sei ein ebenso guter Mensch wie man selbst”,
erkannte Orwell. Gleich darauf kämpfte er im Spanischen Bürgerkrieg
für Brüderlichkeit und “absolute Gleichheit”, gegen Franco
und die Faschisten, bis ihm im Schützengraben an der Aragon-Front eine
Kugel den Hals durchschlug.
“Ich habe wunderbare Dinge gesehen und ich bin vom Sozialismus jetzt wirklich
überzeugt, was ich vorher nie gewesen bin”, meldet der rote Milizsoldat
E. Blair nach Hause. Seine Träume und Hoffnungen aber zerstoben jählings
den Säuberungsaktionen kommunistischer Funktionäre und Genickschuß-Spezialisten,
die aufräumten unter den revolutionären Splittergruppen und Abweichlern
von Moskaus Linie – und Anarchisten und Trotzkisten. Orwells Bericht “Mein
Katalonien” hat diesen “stalinistischen Verrat” dokumentierte
die linke Intelligentsia Englands, die herzlich verachtete, wollte nichts davon
hören.
Als “demokratischer Sozialist” war er aus Spanien heimgekehrt nach
Herfordshire, ins grüne, alternative Leben, fern der ihm stets verhaßten
Großstadt zu seinen Hühnern, zum Gemüse und dem Dorfladen, der
er mit Ehefrau Eileen betrieb. Als leidenschaftlicher Patriot kehrte er nach
Kriegsausbruch zurück in die Betonschluchten Londons, in Erwartung der
deutschen Bombergeschwader, und “die Wucht und Schönheit der Flammen”
hat ihn dann mächtig beeindruckt – er fühlte sich einfach wohl
im Feuer, das vom Himmel fiel, zwischen den Trümmern, im Ausnahmezustand
von “Blut, Schweiß und Tränen”, ein Mann (so Biograph
Lewis), “der Mühsal und Widrigkeiten förmlich genoß”,
Sein einziger Kummer: Die Armee wies ihn als nicht verwendungsfähig zurück,
der tuberkulösen Lunge wegen.
Zum Geheul der Sirenen, im höllischen Wetterleuchten der Luftschlacht um
Britannien trat Orwell ein ins letzte Jahrzehnt seines Lebens. Es war die Zeit
der vielen Zeitungsartikel, Rezensionen und großen literarisch-politischen
Essays, die klaren Stils, aggressiv-polemisch, zutiefst pessimistisch den Geist
und die Geisteskrankheit der Epoche offenbaren.
Was er sah, angesichts eines Stalin, eines Hitler, war der “Zusammenbruch
der liberalen christlichen Kultur” Europas: “Mit fast tödlicher
Sicherheit bewegen wir uns auf ein Zeitalter totalitärer Diktaturen zu,
ein Zeitalter, in dem Gedankenfreiheit zunächst eine Todsünde und
später ein leerer, abstrakter Begriff sein wird. Das selbständig denkende
Individuum wird ausgelöscht werden.” Dennoch, beharrte er, müsse
“man den politischen Kampf weiterführen, so wie ein Arzt versuchen
muß, das Leben eines Patienten zu retten, der wahrscheinlich stirbt”.
Im Frühjahr 1944, als die ganze westliche Welt noch bewundernd auf den
tapferen “Onkel Joe” im Kreml blickte, beendete Orwell seine allegorische
“Geschichte einer Revolution, die entartete” – jene Fabel
von der “Farm der Tiere”, auf der “alle Tiere gleich, aber
einige Tiere gleicher sind als andere”. Drei englische und rund 20 amerikanische
Verlage schickten ihm das Manuskript zurück. Auch der Dichter T. S. Eliot,
Verlagsdirektor von Faber & Faber, gab sich nicht überzeugt, daß
“das Buch zu den Dingen gehört, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt
gesagt werden sollten”.
Ein Jahr später, im ersten Sommer des Friedens (und der Kalte Krieg bereits
in spürbarer Nähe), wurde “Animal Farm” über Nacht
zum Weltbestseller und als die großartigste Satire seit Swifts “Gulliver”
gefeiert. In der “Prawda” aber stand zu lesen: “Orwell sabbert
gifitigen Speichel, und für alles Schlechte macht er das Volk verantwortlich.”
George Orwell, 41jährig, war plötzlich ein berühmter Autor. Aber
er war auch ein kranker, ein unglücklicher Mann. Seine Eileen war ihm gestorben,
und er blieb allein mit dem kleinen Richard, den sie adoptiert hatten und für
den er nun dringend eine neue Mutter suchte. In meinem Leben gibt es nur noch
die Arbeit und die Sorge, wie ich Richard zu einem guten Start verhelfe. Manchmal
fühle ich mich nur so verdammt einsam”, schrieb er in einem seiner
Heiratsanträge. Er fügte hinzu: “Eigentlich frage ich Sie, ob
Sie die Witwe eines Schriftstellers werden wollen.”
Mit seinem Sohn zog er in die Abgeschiedenheit der Insel Jura vor der Westküste
Schottlands, in ein verlassenes Farmhaus ohne Strom und Telephon, umgeben von
einer Ödnis aus Heide, Moor und Torf, der nächste Arzt 30 Meilen weit
entfernt – “ein wahnwitziger und selbstmörderischer “Aufenthaltsort”,
wie ein Kritiker meinte; “Todeswünsche”, mutmaßten andere,
hätten ihn dorthin getrieben. “Ich glaube”, sage Kollege V.
S. Pritchett über den “verarmten Sahib”, “er war ein
Mensch, der einfach leiden wollte.”
Orwell jedoch versicherte: “Es geht mir prächtig hier.” Er
bestellte seinen Gemüsegarten, töpferte, zimmerte, bastelte Spielzeug
für Richard, machte Marmelade ein, jagte Kaninchen, rupfte Gänse,
legte Hummerkörbe aus, schipperte zum Angeln hinaus auf die hohe See und
kehre zurück ins kahle, kalte Heim, um weiterzuschreiben an seiner “Utopie
in Form eines Romans”. “Der letzte Mensch in Europa” sollte
sie heißen; oder auch, in Verdrehung der seinerzeit aktuellen Jahreszahl:
“1984”.
“Überall auf der Welt”, kommentierte Orwell sein Werk, “haben
sich totalitäre Ideen in den Köpfen der Intellektuellen festgesetzt,
und ich habe versucht, diese Ideen logisch zu Ende zu denken.”
Doch in seiner Brust nistete der Tod. Orwell mußte wieder ins Krankenhaus.
“Ich hätte”, gestand er ein, “das schon vor zwei Monaten
tun sollen, aber ich wollte dieses verdammte Buch erst noch unter Dach und Fach
bringen.”
Das Frühjahr 1949 verbringt er in einem Sanatorium im Süden Englands.
Sein Roman erscheint im Juni. Im September wird er in die Londoner Universitätsklinik
verlegt. Dort heiratet er die Redaktionsassistentin Sonia Brownell. “Ich
habe”, so sagt er, “die triftigsten Gründe, am Leben zu bleiben.”
Er stirbt in der Nacht des 21. Januar 1950 an einer Lungenblutung, 46 Jahre
ist er alt. Seinem Wunsch gemäß wird er nach dem Ritus der Kirche
von England beigesetzt. Sein Grabstein auf dem Friedhof von Sutton Courtenay
trägt die Inschrift: “Hier ruht Eric Blair”.
Er war ein komplizierter Mann. Doch was er sich, nach den Worten seines Freundes
und Gesinnungsgenossen Arthur Koestler, erträumte, ist einfach zu begreifen:
“Niemand sollte arm sein, und niemand sollte bestimmen können, was
andere Menschen zu denken und zu tun haben.”
Die Geheimdienste bauten, von liberalen Innenministern gegengezeichnet, ihr
Nachrichtensystem Nadis (Nachrichtendienstliches Informations-System) aus. Die
Polizei entwickelte ihr Inpol-Datensystem. Sie enthalten zentrale Personen-Indizes,
die in Sekunden abgerufen werden können und fast perfekt sind. Aber eben
nur fast. Deshalb drängt eine starke Lobby darauf, Zugriff zu den Daten
der Sozialversicherung und den gespeicherten Personenbeschreibungen der Finanzämter,
die zusammen mehr als 95 Prozent der Bevölkerung erfassen, zu bekommen.
Besondere Datenbanken gehen über rein statistische Angaben hinaus. So speichert
das Bundeskriminalamt Fingerabdrücke von über zwei Millionen Personen
und 150.000 Handschriftenproben. Vereint können sie im Zeitraum einer Zigarettenlänge
aus bruchstückhaften Indizien fast jeden identifizieren und dann auch noch
das perfekte Personenbild nachliefern.
Am Ende soll jede Polizeiwache, jeder wohlausgerüstete Streifenwagen in
der Lage sein, binnen weniger Minuten über jede Person verläßliche
Daten abrufen zu können.
Horst Herold, ein gebildeter Mann, wollte mit seinem elektronischen Superstaat
allerdings immer noch den Bürger schützen. Er wollte nicht erst die
Verbrechen aufklären müssen, sondern schon die Verbrechensvoraussetzungen.
Er wollte eine allumfassende Soziographie, um Verbrechen gar nicht erst entstehen
zu lassen.
“Man muß”, sagt Herold in einem gespenstischen Gespräch
mit der Monatszeitschrift “Transatlantik”, einen lebenswerten Staat
schaffen. Einen Staat der Bürger – einen transparenten Staat. Und
den können Sie nur technisch transparent machen. Ja, das ist natürlich
ein Sonnenstaat, aber der ist machbar heute. Hier in der Polizei ist das machbar.”
Elektronische Gerechtigkeit? Verblendung, fast Wahn oder das soziale Konzept
der Zukunft, die Orwell übertrifft und schon bei Huxley steht?
Bei Huxleys Sonnenstaat ist Wohlverhalten schon in die Gene der Menschen eingebaut
– Menschen, die auf Flaschen gezogen und “entkorkt” werden:
Vorsorge für ein friedfertiges Leben ohne Konflikte. Die letzte kybernetische
Konsequenz von Herolds Computerdenken. Eine Perversion.
“Aus organisationstheoretischen und –soziologischen Überlegungen
steht fest”, schreibt der Bremer Rechtsprofessor Wilhelm Steinmüller,
“daß Systeme dieser Größenordnung und Kompliziertheit
nicht mehr überblickt und kontrolliert werden können ... Damit ist
das weitere Fehlverhalten des Sicherheitsbereichs vorprogrammiert und praktisch
unausweichlich, unabhängig vom Verschulden Beteiligter. Das technisch-organisatorische
Substrat eines ´friendly fascism´harrt seines politischen Mißbrauchers.”
Das in der Welt einmalige deutsche Sicherungssystem, mein Steinmüller,
finde seine Parallele im Ausbau der Kernenergie: “Man schafft ein überdimensioniertes
Risikopotential und hofft vergeblich auf das Nichteintreten der unvermeidlichen
Begleitfolgen.” Großtechnologie, deren äußerstes Sinnbild
eine wie wild ausgebaute Atomenergie ist, bringt das Gemeinwesen ganz von selbst
zu einem höheren Grad des Totalitarismus.
Großtechnologie, wie sie von ihren führenden Verfechtern betrieben
werden soll, ist im Ansatz der Vresorgung des Bürgers gewidmet. Atomkraftwerke
liefern eben Strom. Doch die komplizierte Technik führt zur Verselbständigung
des Systems. An dessen denkbarem Ende ist es dann nicht mehr für den Bürger
da, sondern umgekehrt.
Weil dies untergründig empfunden wird, muß das System nun gegen den
Bürger, aber scheinbar zu dessen Nutzen verteidigt und bewacht werden.
Wenn es soweit kommt – und bei einer perfekten Atomtechnologie muß
es wohl dazu kommen -, ist der Totalitarismus à la Orwell und Huxley
da.
Das Unternehmen Atomstaat, wie Robert Jungk ihn beschreibt, würde sich
zwangsläufig einstellen, wenn die etwa von dem deutschen Brüter-Professor
Wolf Häfele entwickelte Idee einer atomaren Versorgungswelt auch nur in
Ansätzen verwirklicht wird.
Häfele hat vorgerechnet, daß bei einer Entscheidung der Menschheit
– wer ist das: die Menschheit? – für den atomaren Weg im Jahr
2030 rund 5000, später dann weitere 10.000 Kernkraftwerke dastehen müßten,
zumeist in Gestalt von Schnellen Brütern.
Schon die ersten 5.000 Nuklearanlagen sollen 40.000 Milliarden Dollar kosten,
eine Zahl mit 13 Nullen, das Vierfache des gegenwärtig auf der Welt vorhandenen
Produktivvermögens. Nach einer Vermutung des US-Atomprofessors Alvin Weinberg
wird bei Anlage einer solchen Zahl von “Kernenergieparks” alle vier
Jahre ein Kernschmelzunfall stattfinden. Mit dem Strahlenrisiko müsse die
Menschheit, die dann ja eine andere Menschheit wäre, leben.
Bereits dieses Unfallrisiko bietet eine wohlfeile Begründung für den
Aufbau einer weitverzweigten Überwachungsarmee, der die Personenraster
des Doktor Herold prächtig zu Diensten sein können. Der “friendly
fascism” würde seinen Mißbraucher rasch finden.
Was den Überwachungs-“Bedarf” betrifft, hat die Eigendynamik
schon begonnen. Seit 1970 ist der Aufwand für den Verfassungsschutz versechsfacht
worden. Der Personalbestand des Bundeskriminalamtes ist viermal so hoch wie
1970, die Polizei der Länder ist um rund 50 Prozent verstärkt worden.
In Westdeutschland arbeiten, auf die Bevölkerung bezogen, schon doppelt
so viele Polizisten wie etwa in Holland.
Die private Bewachungsarmee kann sich gleichfalls sehen lassen. 900 private
Schutzfirmen beschäftigen rund 70.000 Wächter. Für den Werkschutz
sind 120.000 zumeist Bewaffnete unterwegs. Die Sicherheitsanforderungen eines
Nuklearsystems werden um ein Mehrfaches höher sein. Weinbergs Kernenergieparks
müssen zwangsläufig Sicherheitszonen haben wie einst des Führers
Wolfsschanze im Zweiten Weltkrieg – und paramilitärisches Bewachungspersonal.
Ganz von selbst müssen Systeme solchen Zuschnitts kontraproduktiv wirken.
Je mehr Aufwand die Großtechnologie und ihre Verteidigung, die Bürokratie
und ihre Verteidigung schlucken, desto geringer der Lebensstandard des Volkes.
Im Bild Orwells, das freilich den alten, billigen Staatskapitalismus der Stalin-Zeit
zum Vorbild hatte, ist der Höhepunkt des äußeren Lebensstandards
längst überschritten, er liegt vor der Machtübernahme durch die
eine Partei. Seitdem hat sich die Welt in einen “armseligen, hungerleidenden
jämmerlichen Aufenthaltsort” verwandelt.
Sehr wahrscheinlich, daß Übertreibungen beim Aufbau großtechnologischer
Systeme, die durch staatliche Hoheitsakte entstanden sind wie die Nuklearwirtschaft,
den Keim des ökonomischen Abstiegs ebenso tagen wie den des totalitären
Staats. Diese Gefahren einer postliberalen Zeit lassen sich für totalitäre
Staaten nur durch den einen, nicht von Orwell, wohl aber von Huxley vollzogenen
Schritt vermeiden: Konfliktbeseitigung durch genetisch Programmierte und durch
Psychopharmaka.
In Huxleys schöner neuer Welt arbeiten nach dem griechischen Alphabet abgestufte
Menschengruppen unterschiedlicher Intelligenz, deren Zahl genau auf die gesellschaftlich
nötigen Produktions- und Verwaltungsvorgänge abgestellt ist. Die Menschen
werden künstlich gezüchtet, ihre Gene auf Flaschen gezogen, und zwecks
Geburt wird der genormte Mensch dort herausgeholt. Die Alpha-Menschen sind von
hoher, die Gamma-Menschen von niedrigerer Intelligenz, die Epsilon-Typen haben
gar keine Intelligenz mehr. Die von unten sehnen sich nicht nach dem Statur
der oberen und umgekehrt.
Er herrscht folglich Frieden in der Huxley-Gesellschaft, und wenn es zu Spannungen
dennoch einmal kommt, helfen “Soma”-Tabletten, und der Mensch verfällt
in angenehme Gefühle, Konflikte etwa durch Eifersucht und Kindererziehung
finden nicht statt. Persönliche Bindungen gibt es nicht, dafür ausgedehnte
Promiskuität.
Die Gesellschaft funktioniert durch ihre Seelen- und Bindungslosigkeit, aber
auch sie ist totalitär, weil ihr System von innen und von außen nicht
gestört werden darf. Wer sich den Luxus der Individualität leisten
will, kommt auf ferne Inseln. Einer der Haupthelden wurde auf die Falklands
verbannt.
Die Wirklichkeit ist von solchem Bild nur scheinbar noch weit entfernt. Denn
es sind auch hier wieder, wie in Orwells Überwachungsstaat, die technischen
Ansätze sichtbar. Die selbstverständliche Raktenfahrt ebenso wie der
private Hubschrauber, die Neigung zur Promiskuität ebenso wie die zur äußerlichen
Jugendlichkeit bis in den Tod, die Neigung, Konflikte mit Psychopharmaka abzuwürgen,
erst recht und der Beginn einer biochemischen Revolution ganz deutlic. Das künstliche
Befruchtungen außerhalb des menschlichen Körpers gelangen, mag für
die Huxley-Welt eine primitive Vorstufe sein. Doch Wissenschafts-Technokraten
sind längst auf dem Weg der Gen-Manipulation.
Daraus ist bereits, in Amerika vor allem, ein ganz neuer Industriezweig geworden.
“Genetic Engeneering” heißt er mit hohem Geschmacksempfinden,
und gezüchtet werden dort Virus-Kulturen, die einen bestimmten Zweck erfüllen
sollen.
James Watson und Francis Crick, die Entdecker der Gen-Strukturen, hatten festgestellt,
daß die Erbanlagen in einer Doppelspirale von Molekülen programmiert
sind. Diese Erbanlagen lassen sich verpflanzen: Lebenwesen, primitive freilich,
können schon jetzt Eigenschaften anderer Lebenwesen einprogrammiert bekommen.
Für Biochemiker, vielleicht aber auch für Nationalstaaten und Industrie-Unternehmen,
ein faustischer Reiz.
An der Schwelle zum Jahr 1984 hat sich die Menschheit sämtliche Instrumente
geschaffe, die stets unter dem Schlagwort “1984” vereint werden.
An der Schwelle zu diesem magischen Jahr unterliegen viele der heißen
Illusion, zwar die Orwell-, wenn nicht die Huxley-Technik zu beherrschen, sich
von ihr aber nicht beherrschen zu lassen.
Doch wo der Ausdruck “herrschen” so locker und selbstverständlich
fließt, da ist die zwanghafte Neigung zum Totalitären nicht mehr
auszuschließen. Da wirkt die Lust an der Anwendung höher als die
Lust an der Freiheit des anderen. Da gerät nicht nur der totalitäre
Staat, da driftet selbst ein liberal verfaßtes Gemeinwesen in das unsichtbare
Netzwerk von Elektronik und Überwachung, von Reglementierung und Manipulation.
Und wenn schon nicht der Staat, dann private Institutionen wie Wirtschaftsunternehmen
etwa, die nicht demokratisch kontrolliert werden.
Der Bonner Historiker Karl Dietrich Bracher, einer der profiliertesten Erforscher
totalitärer Systeme, hat die Bedingungen genannt, unter denen totalitäre
Herrschaft nach dem Muster des Orwell-Staates entsteht. Sie sind leicht aufgezählt,
in jeder westlichen Demokratie vorhanden und damit auch in der deutschen.
Die primäre Totalitarismus-Bedingung ist nach Bracher der Industrialismus
und die Technologie. Deren Wuchern bilde die eigentliche Basis jeder totalen
Herrschaft. Industrialismus und Technologie aber sind die Hauptgötzen auch
der westlichen Demokratien.
Als weitere Bedingungen hat Bracher, im Zusammenhang mit Arbeiten über
den Nazi-Staat, politische Unerfahrenheit, geringes Vertrautsein mit den Funktionsweisen
parlamentarischer Demokratie, mächtige obrigkeitsstaatliche Reste und große
Entscheidungsspielräume der Kritiker wie der Gegner des demokratischen
Staatswesens erkannt.
Industrialismus und Technologie zumindest sind den Deutschen eingegeben, ebenso
wie obrigkeitsstaatliche Rückfälle. Sie werden, von der konservativen
Regierung in Bonn, eher gefördert als gemindert. Sie werden, deutlicher
gesagt, sogar mit Eifer fortgeschrieben. Sie gelten, mehr noch, als Lösungskerne
für den gedeihlichen Fortschritt.
1982, noch bis zum Kanzlersturz, besaß die Bundesrepublik Deutschland
den Innenminister Gerhart Baum, der den Überwachungsstaat begrenzen, wenn
nicht abbauen wollte. Baum wurde von seinen konservativen Gegnern als Sicherheitsrisiko
eingestuft.
1983 besitzt die Bundesrepublik den Innenminster Friedrich Zimmermann, der den
Überwachungsstaat wieder stärken will, dessen Staatssekretär
Karl-Dieter Spranger erklären darf, den Datenschutz auflockern zu wollen.
Datenschutz, so die Kurzformel, sei Tatenschutz – also Täterschutz.
1984 schließlich, als hätte es der 1950 verstorbene Orwell aus dem
Grabe bestellt, werden Westdeutschlands Bürger ihre neuen EDV-gerechten
Bundespersonalausweise bekommen – abtastfähig von den elektronischen
Geräten der Polizei und des Zolls, die sämtlich verbunden sind mit
dem Zentralcomputer des Bundeskriminalamts in Wiesbaden.
Der Große Bruder ist elektronisch geworden. Es gibt ihn nicht, aber er
ist da.