HAUSMITTEILUNG

Datum: 3. Januar 1983 Betr.: 1984

Georg Orwell hätte das Buch auch „2000“ nennen können. Oder „1983“. Weil er es 1948 schrieb, verfiel er auf „1984“ – der Roman verdankt seinen Titel einem Zahlenspiel.
Der Roman wurde zu einem Jahrhundertbuch, sein Titel eine klassische Prägung wie die Morus-„Utopia“, und aus dem Spiel ist Ernst geworden. Seit „1984“ sieht eine von Orwell belehrte Welt dem wirklichen 1984 als einem ominösen Datum entgegen. Längst ist sichtbar: Die Zukunft, die Orwell mit so nachhaltigem Welterfolg aus- und schwarzgemalt hat, diese Zukunft des „Großen Bruders“, des allgegenwärtigen, alles kontrollierenden Staates, sie hat schon begonnen.

Negative Utopien, wie die von Orwell oder auch die „Schöne neue Welt“ seines Landsmannes Aldous Huxley, sind in all ihrem Pessimismus immer auch Warnungen, die das Wahrwerden der düsteren Visionen abwenden sollen. So ist 1983, mit Blick auf „1984“, das Orwell-Jahr.
Orwells Buch gehört zu den Bestsellern des vergangenen Jahres (siehe Seite 127). Die Frankfurter Buchmesse hat sich „1984 – der Mensch in der verwalteten Welt“ zum „Schwerpunkt-Thema“ gesetzt.

Ein Jahr vor 1984 – das hat etwas von fünf vor zwölf. In seiner Titelgeschichte (Seite 19) zeigt Spiegel-Redakteur Werner Meyer-Larsen au, was von Orwells (und Huxleys) Schreckenvisionen wahr geworden ist, was demnächst wahr werden könnte und was sich so verdeckt eingeschlichen hat, dass es vielen noch nicht als bedrohlich auffällt: „Da driftet selbst ein liberal verfasstes Gemeinwesen in das unsichtbare Netzwerk von Elektronik und Überwachung, Reglementierung und Manipulation.“
Der „Große Bruder“ steckt im Detail, auch in diesem: Just 1984 werden die Bürger der Bundesrepublik neue, EDV-gedruckte Personalausweise erhalten – abtastbar von elektronischen Geräten der Polizei und des Zolls, die allesamt mit dem Zentralcomputer des Bundeskriminalamts verbunden sind.


Die neue Welt von 1984


Georg Orwell hat im Jahre 1948 das Buch „1984“ geschrieben. Seine Vision vom totalen Überwachungsstaat ist der Wirklichkeit sehr nahe gerückt. Der gläserne Mensch ist da, seine Daten sind gespeichert. Der technisch perfekte Überwachungsapparat harrt seines politischen Missbrauchers: 1983 ist „1984“

Die Gefahren des „großen Bruders“ sind nicht mehr bloß Literatur. Sie sind nach dem heutigen Stand der Technik real.
Horst Herold, bis 1980 Präsident des Bundeskriminalamtes

Der Countdown läuft zwölf Monate. Dann ist 1984, und George Orwell (1903-1950) wird der Mann des Jahres sein.
Zwölf Monate noch trennen die Menschheit, die östliche und die westliche, von jenem magischen Datum, das die Vollendung einer menschenfeindlichen, nur noch totalitären Überwachungsgesellschaft beschreiben soll.

Dreieinhalb Jahrzehnte lang werden dann Kulturkritiker und Soziologen, Politiker und Ökonomen, Konservative, Sozialisten und Liberale auf die magische Zahl 84 gestarrt haben – eine Zahl, die mehr aus Zufall entstanden war: durch die Umkehrung des Jahres 48 im 20. Jahrhundert, jenes Jahres, in dem Orwell sein Buch „1984“ geschrieben hat.
Dreieinhalb Jahrzehnte lang geistert nun jene Vision umher, die Unheimliches mit schierer Verzweiflung paarte, die eine lebensfeindliche Welt beschrieb, in der dennoch gelebt werden musste, in der Apparate über die Menschen und in der ein Großer Bruder über die Menschheit herrschte – „Big Brother is watching you“.
Der Roman „1984“, als Warnung gedacht und als Satire geschrieben, war zur Chiffre geworden für alles, was die Welt an Totalitarismus und Personenüberwachung, an Gesinnungsterror und Bürokratie, an amtlicher Verlogenheit und Manipulation der geschichtlichen Wahrheit, an psychischen Schrecknissen und verletzter Menschenwürde, an Vernichtung von Liberalität und Persönlichkeit, ob Liebe oder Religion, erfunden hat.

Eine Chiffre deswegen, weil vieles von Orwells Visionen in Ansätzen längst vorhanden, oft schon erprobt, öfter schon von der Wirklichkeit überholt ist. Weil manches bei genauem Hinsehen schrecklicher scheint als die Vision selbst.
Da ist ein Staat, der elektronische Gerichtsurteile über Verkehrssünder spricht. Da ist ein Staat, der seine Gegner in psychiatrische Anstalten steckt wie etwa die Sowjet-Union. Da ist ein Staat, der Terroristen mit Rasterfahndung verfolgt und dadurch Tausende von harmlosen Bürgern in Verdächtigtenkarteien bringt wie die Bundesrepublik Deutschland.

Da ist ein Bürger, der Krankenkassenformulare ausfüllt und dessen Daten von Stund an zentral gespeichert sind. Da ist ein Bürger, der sein Auto bei der Zulassungsstelle anmeldet und wiederum gespeichert ist. Da ist ein Bürger, dessen Sozialversicherungspflicht ihn in die nächste Datenbank bringt.

Und so geht es weiter: Wenn einer auf der Bank Kredit will – schon ist er gespeichert. Wenn er sich im Hotelfoyer einträgt, im Buchklub, bei der Lebensversicherung – alles ist gespeichert, gespeichert, gespeichert.

Gespeichert in alle Ewigkeit? Wie weit ist schon System geworden, was an Überwachungstechnik möglich, was an Datenverbreitung vorhanden ist? Wo muss der Staat nach seinem Selbstverständnis überwachen? Sind die angeblichen großtechnologischen Zwänge, repräsentiert durch Atom- und Rüstungsindustrie, schon der Ansatz zum gefürchteten Totalitarismus à la 1984 – auch dort, wo liberale Verfassungen noch erfüllt zu sein scheinen?

Welche Orwell-Zwänge, die der Ahnherr des Jahres 1984 selbst gar nicht gesehen hat, belästigen die Menschheit bereits? Sind sie wirklich schon schlimmer als in der grausigen Vision? Ist vieles nur erträglich, weil es nicht angewendet wird oder weil die Anwendung unbemerkt bleibt?
1984, das Jahr, ist auf der ganzen Welt zur Chiffre geworden auch für jene Formen der Science-fiction, die den totalen Staat und seine totale Technik zum Thema haben, zum Sinnbild für einen Literaturtyp, der den durch staatliche und technische Totalität beherrschten Menschentyp beschreibt. Einen Menschen, dem die Freiheit abhanden gekommen ist, der in steten Verhaltenszwängen lebt und eigentlich keine Chance mehr hat. 1984 ist – oft herbeigeredet, aber oft auch erfüllt – der Schlüsselbegriff für eine beängstigende Welt geworden.

Literaten, Verlagsherren und Buch-Konsumenten hatten das längst geahnt.
Seit dem vergangenen Jahr ist das Buch „1984“ wieder ein Bestseller. Amerikanische Magazine wie „Harper`s“ („If Orwell were alive today“) und „The New Republic“ („Was Orwell right?“) kämmen schon Anfang 1983 das Thema 1984 ab. Bestseller-Autor Ed L. Doctorwo („Ragtime“) schreibt im „Playboy“ über Vision und Wirklichkeit von 1984 („On the brink of 1984“). Sie alle ernennen 1983 und nicht erst 1984 zum eigentlichen Jahr des George Orwell.

Das US-Nachrichten-Magazin „Time“ bringt zum ersten Male in seiner Geschichte nicht mehr eine Einzelpeson als Mann des Jahres, sondern den Computer als beherrschende Figur: Kaum dass die letzten zwölf Monate vor dem magischen Jahr begonnen haben, ist das Jahr des Großen Bruders Gegenwart.

Der Roman „1984“ war entstanden aus Berichten über das Sowjet-System und den Hitler-Staat. Er ist nachempfunden dem schon 1921, ein Jahr vor Gründung der Sowjet-Union geschriebenen Roman „Wir“ des russischen Schriftstellers Jewgenij Samjatin, der aus den revolutionären Anfängen des Bolschewismus genial den totalen Staat Stalins vorhergesehen hatte.

„1984“ ist außerdem entstanden aus den Berichten europäischer Kommunisten, die später Abtrünnige des Systems geworden sind, wie denen des Schriftstellers Arthur Koestler, mit dem Orwell befreundet war. Das Buch Orwells, der selbst ein linker Literat war, ist so gesehen unter einem einseitigen Aspekt geschrieben. Doch die Symbolzahl 1984 ist unversehens über diese Begrenztheit hinausgewachsen.

1984, das Jahr, wurde auf solche Weise auch Chiffre eines zweiten literarischen Welterfolgs: des Romans „Schöne neue Welt“ von Aldous Huxley, gleichfalls einem Briten, der die Strukturen seiner Zeit zu ihrem grässlich logischen Ende gedacht hat.
Bei Huxley, der nicht die Herrschaft der Gewalt, sondern die der sozialen Anästhesie beschreibt, ist Komfort das Credo einer Gesellschaft, die ein Weltstaat ist. Bei Orwell sind es Ärmlichkeit, Kohlgeruch und schindender Wohlstand.

Der Sozialist Orwell beschreibt schlicht die vom Sowjet-System abgeleitete totalitäre Welt von Entbehrung und Terror. Aldous Huxley beschreibt mit technischer Phantasie eine bis in die perfekte Menschenzüchtung vorgeschrittene totale Welt vom Komfort und seelenlosem Frieden. Orwells Variante ist die östliche, Huxleys mag die westliche sein, und beide haben sich unter dem Begriff 1984 zu einem globalen Schreckensbild vereint.

Das Schreckensbild ist in Teilen Realität geworden. Der östliche Mensch hat seine inneren Barrieren gegen den totalitären Staat gebaut und hofft auf kleine Freiheiten durch große Anpassung. Der westliche Mensch lebt mit den Umständen, solange liberale Verfassungen, auch liberal gehandhabt, ihn noch schützen können. Die Bedrohung, Marke 1984, bleibt aber bei beiden.

Bedrohlich fortentwickelt etwa ist Orwells außenpolitische Vision um die Dreiteilung der Welt. Der Romancier trennt die Welt in drei große Machtblöcke „Ozeanien“ (Nord- und Südamerika, Australien, das südliche Afrika sowie Großbritannien, das nur noch „Luftstützpunkt Nr. 1“ heißt), Eurasien (die Sowjet-Union und das Kontinentale Europa) und Ostasien. Das nördliche Afrika ist nach den Ideen Orwells wechselnd in eurasischer und ozeanischer Hand. Es wird als ständiger Kriegsschauplatz beider Blöcke verwendet. Sämtliche drei Supermächte sind totalitär.

Die beiden echten Supermächte von 1984, USA und UdSSR, tragen im afrikanischen Raum, freilich auch in Asien, tatsächlich ihre frivolen, dem außen- wie dem innenpolitischen Gebrauch dienenden Kriege aus. Allein die dritte Großmacht, Ostasien, wird im richtigen Jahr 1984 kein äußerlich geschlossener Block sein.
Orwells Behauptung aber, Großbritannien sei 1984 Ozeaniens Luftstützpunkt Nr. 1, rückte Ende 1982 auf schauerliche Art in die Nähe der Wahrheit: durch die Nachricht, die Nato wolle ihr Hauptquartier im Konfliktfall nach Großbritannien verlegen, weil Deutschland, sprich Kontinentaleuropa, bei einem Atomkrieg nicht mehr zu halten sein werde.
Bedrohlich fortentwickelt auch sind die Techniken der totalen Überwachung.

Bei Orwells Romanhelden Winston Smith liest sich das so:
Der Televisor war gleichzeitig Empfangs- und Sendegerät. Jedes von Winston verursachte Geräusch, das über ein leises Flüstern hinausging, wurde von ihm registriert. Außerdem konnte Winston, solange er in dem von der Metallplatte beherrschten Sichtfeld blieb, nicht nur gehört, sondern auch gesehen werden...
Über solche Primitiv-Techniken des Terrors können Überwachungsfachleute im wirklichen Jahr 1984 nur lächeln. Schon 1983 steht ein ganzes Arsenal unauffälliger Überwachungs-Instrumente zur Verfügung, an das auch Privatleute herankommen. Bei gezielt massivem Einsatz solcher Geräte ist jeder Bürger überall aufspürbar und abhörbar. Sogar seine Bewegungen lassen sich übertragen. Der japanischen Kunst von Verkleinerung und Verfeinerung elektronischer wie optischer Apparate sei Dank:
In kleinen Diplomatenkoffern können komplette Bildaufnahmegeräte stecken, die durch ein unauffälliges Loch Bild und Geräusche von Unterhaltungen bei Tisch auf einen fernen TV-Schirm übertragen. Auch für Spionage in freier Natur sind die Köfferchen geeignet. Noch auf mehrere hundert Meter Distanz melden sie übers Fernsehen, was die beschatteten Personen tun und reden.

Parabolspiegel mit Richtmikrophonen können bis zu 500 Meter Entfernung jeden Ton auffangen und konservieren. Auf Moskaus Kaufhaus “Gum” stehen sie zum Beispiel, um Gespräche auf dem Roten Platz vor der Kreml-Mauer abzuhören.Kohlemikrophone – ohne Batterie – können durch zwei bis drei Meter dicke Betonwände jeden Ton aufnehmen. Eine Weiterentwicklung dieser Technik durch die Firma Siemens soll den Üertragungen die Qualität eines normalen Telephongesprächs verleihen. Telephongespräche, die über Satelliten geführt werden, lassen sich mit Spezialantennen anzapfen, wenn die Nummer des Empfängers bekannt ist. Auch wer sich den teuren Luxus eines Auto-Telephons leistet, kann über Funk angepeilt und mühelos abgehört werden.

Sogar durch dicke Glascheiben lassen sich Gespräche in Wohnungen oder Büros über 50 bis 100 Meter Distanz aufzeichnen. Jedes Wort im Raum versetzt die Außenscheiben in bestimmte Schwingungen. Diese Schwingungen können von Spezialgeräten aufgenommen und in lebendige Sprache zurückübersetzt werden.
Wer eine beliebige Polizeistation anruft, muß neuerdings schon damit rechnen, daß der Polizist in der Leitung bleibt, auch wenn der Anrufer längst aufgelegt hat. Auf der Wache kann weiter mitgehört werden, was in der Wohnung des scheinbar längst ausgeklinkten Anrufers geredet wird.

Gute Gelegenheit, über das Telephon zu schnüffeln, bietet auch die sogenannte Harmonium-Wanze. Sie muß vorher nur in den Telephonhörer des Beschnüffelten gesteckt werden, dann geht alles ganz leicht: Der Überwachte wird angerufen, und sowie er den Hörer abgenommen hat, genügt ein 800-Hertz-Pfeifton, um die Wanze zu aktivieren.
Der Angerufene hält das ganze für eine falsche Verbindung und legt wieder auf. Von diesem Moment an leitet der aufgelegte Hörer alles, was im Raum gesprochen wird, über die normale Telephonleitung zum Schnüffler, der die Wanze durch einen ähnlichen Pfeifton dann wieder “abstellen” kann.
Solche Technik ist jener des Orwell-Staates weit überlegen. Dort war der Televisor zumeist klar sichtbar, die Krux war allerdings, daß der Betroffene ihm nicht ausweichen konnte. Die neuere Schnüffeltechnik kommt ohne das Mitwissen des Beschnüffelten aus.

Unlösbar verbunden mit organisierter Menschenüberwachung ist die elektronische Aufzeichnung der Daten. In Orwells System ist über jeden alles bekannt. Der Mensch ist gläsern. Aber gläsern ist er auch schon der westdeutschen Wirklichkeit.
1979 schon sollen rund neun Millionen westdeutsche Bürger in geheimen Datenbanken erfaßt gewesen sein. 1982 könnte es schon die Mehrheit des Volkes sein.
Denn wo überall müssen nicht persönliche Angaben hinterlassen werden? Auf dem Krankenschein, bei der Sozialversicherung, bei der Zulassungsstelle für Automobilde, im Hotel, im Buchklub, bei der Bank, bei der Lebensvresicherung, auf der Aufnahmestation des Krankenhauses und gelegentlich sogar im Foyer großer Unternehmen. Niemand, der sich im Lande bewegt, entrinnt mehr einer Datenbank.

Damit allein schon können Daten über Personen auf den Markt geraten, die ganz harmlos ihren täglichen Besorgungen nachgehen, ohne mit der staatlichen Macht in Kollision zu geraten oder ihr zu dienen. Personen also, die allenfalls das Einwohnermeldeamt oder die Finanzbehörde etwas angehen. Denn Datenbanken sind anzapfbar, es kommt nur auf den Preis an.

Ganz offiziell zur Verfügung stehen Daten von Bürgern, die mit dem Gesetz in falsche Berührung geraten sind – etwa weil sie zur Unzeit oder am verkehrten Ort geparkt haben. Nicht nur in die Flensburger Verkehrssünder-Kartei gerät jemand dann rasch hinein, auch gleich in die Polizei-Akten, die angeblich um die 15 Millionen Fälle in Deutschland speichern.
Sowie der Deutsche die Grenzen der Republik verlät, sind neue Aufzeichnungen fällig. Schon das Paßamt besitzt seine Daten. Wenn es ernst wird, muß der Paß an der Grenzstation elektronisch betastet werden, und schon ist heraus, wo die betreffende Person sich gerade befindet. Wenig später kann der Staat über den internationalen Datenaustausch oder den Computer der Lufthansa wissen, wohin jeman geflogen ist. Bei der Lufthansa selbst stehen inzwischen 8.300 Bedienstete in “sicherheitsempfindlichen Bereichen” zur Prüfung durch den Verfassungsschutz an.

Ohne Schutz vor dem Tausch gespeicherter Daten, vor dem leichtsinnigen Umgang mit solchen Angaben wäre der Bürger vogelfrei. Aus dem Netzwerk der Angaben, die er beim Arzt, bei der Versicherung, bei der Polizeikontrolle, an der Grenze, beim Buchklub, im Hotel, beim Finanzamt, beim Sportverein und sonstwo hinterlassen hat, könnte eine totale elektronische Bürokratie zu jeder Person ein Dossier fertigen, das auch die persönliche Vermögenslage und die typischen Begleitpersonen wie Freundinnen und Geschäftspartner mit einbezieht.

Wie von selbst würde bei dieser Verbindung von Daten mancher verdächtig, der rein zufällig bestimmte Kriterien erfüllt, die auch auf einen gesuchten Verbrecher zutreffen. Unversehens kommt eine unschuldige, ganz und gar unverdächtige Person in den Polizeipeicher hinein, und allein das schon kann Grundlage neuer Mißhelligkeite werden.
Ähnlich fatal wie das staatliche Datennetzwerk ist das private. Zwischen den Personalabteilungen großer Unternehmen findet schon längst ein Austausch wohlfeiler Bewerbedaten statt. Wer bei einem bestimmten Kriterium Minuszeichen besitzt, etwa dreimal geschieden ist oder irgendwann vielleicht schuldhaft einen Verkehrsunfall gebaut hat, ist gezeichnet “Saubere” Bewerber sind ihm vorzuziehen, selbst wenn sie dümmer sind.

Als schlimme Vorbelastungen gelten auch gelegentliche Besuche politischer Demonstrationen oder Veranstaltungen überwachter Gruppierungen. Dort werden nicht nur Daten erfaßt, dort wird auch photographiert.
Die Photographie sagt zwar nichts über den Grund des Besuches aus. Es kann reine Neugier gewesen sein, eine Eigenart, von der die schöpferische Phantasie lebt. Aber zehn Jahre später kann diese Photographie einem Bewerber im öffentlichen Dienst zum Verhängnis werden.
Grund genug für große Gruppen, sich anpasserisch zu geben und auf Kritik an Institutionen zu verzichten. Die freiwillige Unterordnung unter totalitäre Verhaltensweisen, schädlich für die demokratische Gesellschaft, beginnt schon hier.

Obgleich die demokratische Gesellschaft dennoch Gelegenheit gibt, das Datennetz zu unterlaufen oder zu ignorieren, ist wirklicher Schutz gegen Datenmißbrauch kaum noch möglich. Weil Datenbanken anzapfbar sind, die aus ihnen geholte Informationsware kommerziell gehandelt werden kann, sind plötzlich Intim-Kenntnisse über Mitbürger auch in privater, von niemand mehr kontrollierbarer Hand frei verfügbar für Freund und Feind.
Schon der reinen Informationsflut wegen stehen die Datenschützer des Bundes und der Länder auf fast verlorenem Posten. Nun aber sollen ihnen auch noch Befugnisse genommen werden. Bonns Innenminister Friedrich Zimmermann hat das für die Legislatur nach dem 6. März fest eingeplant. Und Generalbundesanwalt Kurt Rebmann hat es in der Zeitschrift “Kriminalistik” so ausgedrückt: “Sicherheit geht vor Datenschutz – nicht umgehekehrt” .

Baden-Württembergs Ministerpräsident Lothar Späth, der gerne als moderner Biedermann auftritt, machte schon den Anfang: Die Polizei darf im Ländle Dateien anlegen, ohne sie noch beim Datenschutzbeauftragten registrieren zu lassen. Umgekehrt darf der Datenschützer keine Einsicht in Akten und Unterlagen mehr nehmen, “die im Zusammenhang mit der Verarbeitung personenbezogener Daten stehen”. Und zwischen den staatlichen Dienststellen darf ungehemmter Datenaustausch walten.
Datenschützer und Bürger sind nach diesen Gresetzen machtlos, wenn eine Administration es will. Sie sind abhängig geworden vom guten Willen der Regierung und der Verwaltung. Aber guter Wille ist kein Verfassungsbestandteil, und der Perfektionismus der Behörden ist nun einmal grenzenlos. So entstehen dann Register über Krebskranke und Patienten psychiatrischer Kliniken, über Studenten und über Selbstmordgefährdete.

Manche von ihnen, so etwa das Krebsregister, sollen dem allgemeinen Datenschutz aus wissenschaftlichen Gründen entwunden werden. Doch wer wird sich die Daten besorgen? Ob wohl jemand, der in ein Krebsregister geraten ist, noch Aussicht hätte, einen langfristigen Arbeitsvertrag abzuschließen?

Totale Wahrheit, gespeichert in Daten, ist oft nur eine besondere Form der Unwahrheit. Ihre Kehrseite ist im Orwell-Muster die totale Lüge. Das “Ministerium für Liebe” ist in Wahrheit ein Gebäude-Komplex, in dem gefoltert wird. Das “Ministerium für Wahrheit” gilt bei Orwell als Zentrale zur Verfälschung der Geschichte.
Genau nach diesem Muster werden im kommunistischen Machtraum traditionell Propaganda-Lügen vom Informationsministerium verbreitet. Und je nachdem, welcher Diktator gerade herrscht oder mit welchem Staat gerade gute Beziehungen anstehen, wird die gesamte Geschichte diesen Zwecken zuliebe neu verfaßt.
Über Leonid Breschnews Vorgänger Nikita Chrutschtschow sind die Nachrichten im Sowjet-Reich rar. Sein Grab darf neuerdings nicht mehr besichtigt werden. Dagegen werden in der DDR etwa Martin Luther, der den Feudalfürsten zugetane Religionstifter, und der großbürgerliche Johann Wolfgang von Goethe als Wegbereiter des Sozialismus gefeiert. Der Zweck, die Heroen der deutschen Geistesgeschichte für sich zu reklamieren, heilt die Mittel.

Auch in demokratischen Staaten gibt es Verfälschungen solcher Art. Sie liegen oft in Wortschöpfungen, mit denen gesellschaftlich umstrittene Taten des Staates verharmlost werden sollen. Da ist die Rede von Entsorgungsparks, wenn es um die Lagerung des strahlenden Atom-Mülls geht. Das heißt es Lohnpause, wenn von Einkommensschmälerung die Rede ist, und da heißt es Peacemaker, wenn höchste Kriegstechnik gemeint ist. Da hatte ein amerikanisches Atom-U-Boot gar “Corpus Christi” heißen sollen, bevor es dann “City of Corpus Christi” hieß.
Die elektronischen Medien sind zur Verbreitung verfälschender
Nachrichtensprache besonders dienlich. Sie können, glasfaserverkabelt, nicht nur speichern und überwachen, sie können, ebenso wie der Televisor des Winston Smith, Nachrichten senden, die im Grunde gesellschaftliche Befehle sind.


Im demokratischen System übernehmen sie die Aufgabe ablenkender Berieselung und Anästhesierung, im totalitären die der schieren Propaganda. Sie treffen sich hier wie dort in ihrer endlichen Wirkung: dem berieselten Menschen das eigentlich Nötige abzunehmen – das Denken.
Der Mensch als kritisch-denkendes Wesen, der Staat als Festung freiheitlicher Bräuche, die Staatenwelt als Gemeinschaft friedlichen und monchalanten Zusammenlebens. Dieses waren die hohen humanen Ziele, als Aufklärung, industrielle Revolution und Demokratie ein neues Zeitalter schufen. Sind sie im Orwell-Jahr 1984 bedroht?
Was war schlimmer bei Orwell, was ist schlimmer als bei Orwell? In der Welt der Visionäre war das Leben in den Staaten total organisert und ohne Freiheitsräume. Ohne Hoffnung auch. Aber Konflikte zwischen den Völkern besaßen keinen hohen Stellenwert, waren fast schon Nebensache.

Aldous Huxley, dessen Romanhandlung 600 Jahre in die Zukunft verlegt wird, kannte schon keine Staaten mehr, sondern nur die eine Weltregierung, beherrscht durch den Welt-Aufsichtsrat. Ideologischen Zwist konnte es da nicht geben. George Orwells drei Superstaaten waren sich so ähnlich, daß ideologischer Streit, Religionskrieg also, nicht stattfinden konnte und um Rohstoffe kein Konflikt war, denn jeder konnte sich selbst versorgen. Die Tötungstechnologie war deshalb vergleichsweise unterentwickelt.
In der wirklichen Welt von 1984 aber gibt es zwar die geweissagten Supermächte, doch gehorchen sie verfeindeten gesellschaftlichen Systemen. Obwohl das wirkliche Ozeanien (USA, Westeuropa) und das wirkliche Eurasien (UdSSR, Osteuropa) gemeinsame Traditionen besitzen und sich auch in der Grundlage ihrer Systeme, dem Materialismus, ähneln, haben ihre weltanschaulichen Unverträglichkeiten die Qualität von Religionskriegen gewonnen.

Da in Ost und West unterschiedliche Heilslehren verkündet werden, gerät jeder Konflikt in die Nähe der Systembedrohung. Ost und West reagieren darauf mit hochgeschraubter Kriegstechnologie.

Die gibt es zwar auch bei Orwell. Dort mühen sich ozeanische Wissenschaftler um die “Auffindung eines Verfahrens zur Tötung von mehreren hundert Millionen Menschen in ein paar Sekunden ohne vorhergehende Warnung”. Andere wollen “ein Fahrzeug konstruieren, das sich unter der Erde wie ein Unterseeboot unter Wasser fortgewegt”. Aber Gedanken über Waffensysteme bleiben ein Nebenaspekt. In der gegenwärtigen Welt, ein Jahr vor 1984, ist Orwell nur eine Art Jules Verne.

Schon vor Jahren haben die Amerikaner Orwell da übererfüllen wollen. Unter den Wüsten von Utah und Nevada hatten sie ein Silo-System bauen wollen, in dem ständig 200 Groß-Raketen und eine Unzahl Raketenattrappen hin und her geschoben werden sollten. Daß die Sowjets ähnliche Unterwelt-Projekte betreiben, ist so gut wie sicher.
Seit 1981 besitzen die USA die riesigen 18.700-Tonnen-U-Boote der “Ohio”-Klasse, die im getauchten Zustand auf einen Schlag 24 Langstreckenraketen mit je acht Atom-Sprengköpfen der achtfachen Hiroshima-Stärke abschießen können. Rein rechnerisch kann jedes dieser See-Ungeheuer damit 190 Großstädte auf einen Schlag auslöschen.
Militärisches Gleichgewicht und die Möglichkeiten des Overkill haben Kriege zwischen den Supermächten bisher verhindert. Der ideologische Kriegsgrund aber besteht weiter. Bei Orwell gibt es ihn nicht. Die bei Orwell erkennbare Ratio der Herrscher in Sachen Krieg hat zwar auch die beiden Supermächte des wirklichen Jahres 1984 in Zaum gehalten, doch hält die dritte Staatenwelt, bei Orwell Ostasien genannt, die Option des Krieges offen.

Von der Welt des Nahen Osten ist die westliche abhängig, weil nur dort das Schmiermittel westlicher Industriekultur, das Erdöl, in reichlichem Maße zu haben ist. Zumindest die religiösen Eiferer Chomeini und Gaddafi sind noch immer gut für Überraschungen, die Amerikas Streitmacht einer militärischen Aktion nahebringen. Bricht sie aus, sind die Gleichgewichts- und Sicherheitssysteme auch zwischen Nato und Warschauer Pakt gestört. Einmal ausgebrochen, schließen ideologische Kriege, die um den Sieg eines Systems gehen, jede Vernunft aus.

Die außenpolitische Lage mithin ist verzwickter, gefährlicher, düsterer als im Orwellschen Modell. Und sie hat ihre deutlichen Reflexe auf das innenpolitische Klima. Hüben wie drüben, in jedem Machtblock, wird die Gefahr von außen als Disziplinierungsmittel nach innen benutzt.

Daß totalitäre Staaten Gegner ihres Systems ausmerzen, ist eine alte Weisheit. Daß unter dem echten oder eingebildeten Außendruck auch demokratische Systeme semi-totalitär werden können, ist neu.

Den Einparteien-Systemen der totalitären Welt stehen dort zwar Mehrparteien-Systeme gegenüber, doch gibt es hier wie da kaum eine Duldung von Gruppen, die das System selbst abschaffen, vielleicht nur verändern wollen. Gegen sie richtet sich auch in den Demokratien die volle Macht und Finanzkraft des elektronischen Staates. Das simple Beispiel dafür ist der Sonnenstaat des Doktor Herold.

Horst Herold, inzwischen pensionierter Präsident des Bundeskriminalamtes, ist der Erfinder des Systems der Rasterfahndung, die nur auf elektronische Weise geschehen kann. Auslöser seines Personenverfolgungssystems war die Terrorismus-Welle, der 1977 Prominente wie Generalbundesanwalt Siegfried Bubach, Bankier Jürgen Ponto und Arbeitgeberpräsident Hans-Martin Schleyer zum Opfer gefallen waren.

Um den Ring der Rote Armee Franktion (RAF) zu sprengen, baute Herold in Wiesbaden computergesteuerte Fahndungsnetze auf, in deren Stricken sich nebenher Tausende von harmlosen Mitbürgern verfingen, weil sie etwa in Hochhäusern wohnten, selten anzutreffen waren, zwischen 25 und 35 Lenze zählten und gelegentlich so vermessen gewesen sind, sich bei Hertz oder Avis einen Personenwagen auszuleihen. Weil sie sich eben verhielten wie die auf Unauffälligkeit bedachten Terroristen.
Im Hintergrund der Systemfahndung stehen jene Datensysteme, von denen fast jeder westdeutsche Bürger erfaßt wird. Sie hatten sich, der technischen Entwicklung folgend, seit 1945 fast von selbst aufgebaut und wurden unmerklich allumfassend. Aus dem Bürgerschutz, den die staatliche Polizeigewalt pflegen sollte, wurde Schritt für Schritt der Schutz von Staat und Wirtschaft, von Organisationen, nicht Personen.

Die Prioritäten des liberalen Rechtsstaates drehten sich unter dem Druck elektronischer Technik um. Es entstand in alter, vordemokratischer Tradition ein ausgiebig wuchernder Sicherheitsbereich, der Zug um Zug zum Sicherheitsrisiko für individuelle Freiheit wird – wenn etwa eine totalitär gestimmte Parteienkonstellation ans Ruder gerät.

Ein schwieriger Sohn EnglandsDas kurze Leben des Schriftstellers George OrwellEin glücklicher Pfarrer wär`ich vielleicht / vor zweihundert Jahren gewesen”, erträumte er sich in einem Gedicht. Aber er lebte in den modernen Zeiten der großen Kriege, Krisen und bluttriefenden Diktaturen, und da er ein Gerechter war und von einzigartiger Aufrichtigkeit, ergriff er Partei gegen Gewalt, Unterdrückung und Willkür, für die Erniedrigten und Geschundenen, für Anstand und Freiheit in einer sich verfinsternden Welt, in der man “Lügen als Wahrheit, Mord als Wohltat und bloßen Wind als etwas sehr Solides verkaufte”.

Wenn jedoch “Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann das Recht, den Menschen zu sagen, was sie nicht hören wollen”, schrieb dieser lange, dünne Puritaner, dessen Bücher kaum gelesen wurden – bis er dann doch Gehör fand, bis schließlich doch Erfolg und Wohlstand in seine Einsamkeit hereinbrachen, aber da war er schon ein moribunder Mann, dem die Tuberkulose die Lungen zerfraß.

Georg Orwell, Prophet der Schreckenswelt von “1984”, vielzitierter Autor auch der grimmigen Fabel von der “Farm der Tiere”, ist heute, 33 Jahre nach seinem Tod, der meistgelesene englische Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Und mit später Bewunderung wird inzwischen auch jener einst so mißachtete, jener andere Orwell zur Kenntnis genommen (ja hierzulande überhaupt erst allmählich entdeckt), der in Romanen, Reportagen und vieles Essays Zeugnis ablegt von seiner Zeit, von den Dekaden der Dreißiger und der Vierziger, in denen sich Europas Gesicht verändert hat.
Als den bedeutendsten politischen Literaten auf den britischen Inseln seit Jonathan Swift (1667 bis 1745) hat sein Biograph Bernard Chrick ihn gerühmt; als unbeugsamen Moralisten, nichts und niemandem und keiner Instanz verpflichtet außer dem eigenen Gewissen, pries ihn in einer anderen Orwell-Biographie sein Landsmann Peter Lewis. Eines auf jeden Fall ist er immer gewesen: ein Einzelgänger und Außenseiter, ein höchst querköpfiger Zeitgenosse, ein schwieriger Sohn Englands – schwermütig, verschlossen, selbstzerstörerisch, von stoischer Gelassenheit, voller Widersprüche.

Eric Blair war sein bürgerlicher Name. Britanniens herrschende Klasse hat ihn hervorgebracht, die feine Schule von Eton ihm zum Snob erzogen und seinen Akzent geprägt. Und “fünf langweilige Jahre, durchweht von Hörnerklang”, bis 1927, trug er in Burma des weißen Mannes Bürde, ein junger Polizeioffizier mit Tropenhelm und Stöckchen, “hin- und hergerissen zwischen Haß auf das Empire, dessen Diener ich war, und der Wut auf dieses hinterhältige Gesindel”: “Einerseits hielt ich die britische Kolonialherrschaft für eine widerliche Tyrannei, andererseits wäre es für mich das größte Vergnügen gewesen, einem buddhistischen Priester ein Bajonett in den Bau zu rammen.”
Und so quittierte er mit 24 den Dienst für die Krone und brach aus der Schicht der Privilegierten, um zu büßen für “eine ungeheuer drückende Schuld?, um “hinabzusinken, ganz hinab zu den Unterdrückten”, auf deren Seite er stehen wollte, “und nicht auf der Seite der Tyrannen” – und es begann, “ganz unten”, in Elend und Hunger, in Dreck und Gestank, die beschwerliche Karriere des Schriftstellers Georg Orwell.

Unter den Abgewrackten, den Lumpensammlern, Huren und Clochards von Paris, wo er sich als Tellerwäscher durchschlug, hat sie begonnen, und mit Streifzügen durch die Slums und den Latrinen-Mief der Nachtasyle Londons. Down and Out in Paris and London” nannte er sein erstes Werk. Das 1933 erschien, unbeachtet wie seine folgenden Romane. Er glaube nicht, meine Orwell, daß er “je ein erfolgreiches Buch schreiben werde”.

1936, zur Zeit der großen Drepression und Massenarbeitslosigkeit, reiste er im Auftrag und mit Vorschuß des Verlegers Victor Gollancz in die Industriegebiete Nordenglands, zu den Kumpels von Landcashire und Yorkshire.

Es war Orwells erste Begegnung mit der Arbeiterklasse, mit der er sich gern verbrüdert hätte, nur: Ganz in der Nähe bekannte er in seiner Sozialreportage “Der Weg nach Wigan Pier”, fand er den “Schweiß der Unterschicht” ziemlich ekelhaft; denn “das war es, was man uns beigebracht hatte – ein Arbeiter stinkt”.
“Es genügt nicht, einem Proletarier auf die Schultern zu klopfen und ihm zu erklären, er sei ein ebenso guter Mensch wie man selbst”, erkannte Orwell. Gleich darauf kämpfte er im Spanischen Bürgerkrieg für Brüderlichkeit und “absolute Gleichheit”, gegen Franco und die Faschisten, bis ihm im Schützengraben an der Aragon-Front eine Kugel den Hals durchschlug.
“Ich habe wunderbare Dinge gesehen und ich bin vom Sozialismus jetzt wirklich überzeugt, was ich vorher nie gewesen bin”, meldet der rote Milizsoldat E. Blair nach Hause. Seine Träume und Hoffnungen aber zerstoben jählings den Säuberungsaktionen kommunistischer Funktionäre und Genickschuß-Spezialisten, die aufräumten unter den revolutionären Splittergruppen und Abweichlern von Moskaus Linie – und Anarchisten und Trotzkisten. Orwells Bericht “Mein Katalonien” hat diesen “stalinistischen Verrat” dokumentierte die linke Intelligentsia Englands, die herzlich verachtete, wollte nichts davon hören.

Als “demokratischer Sozialist” war er aus Spanien heimgekehrt nach Herfordshire, ins grüne, alternative Leben, fern der ihm stets verhaßten Großstadt zu seinen Hühnern, zum Gemüse und dem Dorfladen, der er mit Ehefrau Eileen betrieb. Als leidenschaftlicher Patriot kehrte er nach Kriegsausbruch zurück in die Betonschluchten Londons, in Erwartung der deutschen Bombergeschwader, und “die Wucht und Schönheit der Flammen” hat ihn dann mächtig beeindruckt – er fühlte sich einfach wohl im Feuer, das vom Himmel fiel, zwischen den Trümmern, im Ausnahmezustand von “Blut, Schweiß und Tränen”, ein Mann (so Biograph Lewis), “der Mühsal und Widrigkeiten förmlich genoß”, Sein einziger Kummer: Die Armee wies ihn als nicht verwendungsfähig zurück, der tuberkulösen Lunge wegen.

Zum Geheul der Sirenen, im höllischen Wetterleuchten der Luftschlacht um Britannien trat Orwell ein ins letzte Jahrzehnt seines Lebens. Es war die Zeit der vielen Zeitungsartikel, Rezensionen und großen literarisch-politischen Essays, die klaren Stils, aggressiv-polemisch, zutiefst pessimistisch den Geist und die Geisteskrankheit der Epoche offenbaren.

Was er sah, angesichts eines Stalin, eines Hitler, war der “Zusammenbruch der liberalen christlichen Kultur” Europas: “Mit fast tödlicher Sicherheit bewegen wir uns auf ein Zeitalter totalitärer Diktaturen zu, ein Zeitalter, in dem Gedankenfreiheit zunächst eine Todsünde und später ein leerer, abstrakter Begriff sein wird. Das selbständig denkende Individuum wird ausgelöscht werden.” Dennoch, beharrte er, müsse “man den politischen Kampf weiterführen, so wie ein Arzt versuchen muß, das Leben eines Patienten zu retten, der wahrscheinlich stirbt”.

Im Frühjahr 1944, als die ganze westliche Welt noch bewundernd auf den tapferen “Onkel Joe” im Kreml blickte, beendete Orwell seine allegorische “Geschichte einer Revolution, die entartete” – jene Fabel von der “Farm der Tiere”, auf der “alle Tiere gleich, aber einige Tiere gleicher sind als andere”. Drei englische und rund 20 amerikanische Verlage schickten ihm das Manuskript zurück. Auch der Dichter T. S. Eliot, Verlagsdirektor von Faber & Faber, gab sich nicht überzeugt, daß “das Buch zu den Dingen gehört, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt gesagt werden sollten”.

Ein Jahr später, im ersten Sommer des Friedens (und der Kalte Krieg bereits in spürbarer Nähe), wurde “Animal Farm” über Nacht zum Weltbestseller und als die großartigste Satire seit Swifts “Gulliver” gefeiert. In der “Prawda” aber stand zu lesen: “Orwell sabbert gifitigen Speichel, und für alles Schlechte macht er das Volk verantwortlich.”
George Orwell, 41jährig, war plötzlich ein berühmter Autor. Aber er war auch ein kranker, ein unglücklicher Mann. Seine Eileen war ihm gestorben, und er blieb allein mit dem kleinen Richard, den sie adoptiert hatten und für den er nun dringend eine neue Mutter suchte. In meinem Leben gibt es nur noch die Arbeit und die Sorge, wie ich Richard zu einem guten Start verhelfe. Manchmal fühle ich mich nur so verdammt einsam”, schrieb er in einem seiner Heiratsanträge. Er fügte hinzu: “Eigentlich frage ich Sie, ob Sie die Witwe eines Schriftstellers werden wollen.”

Mit seinem Sohn zog er in die Abgeschiedenheit der Insel Jura vor der Westküste Schottlands, in ein verlassenes Farmhaus ohne Strom und Telephon, umgeben von einer Ödnis aus Heide, Moor und Torf, der nächste Arzt 30 Meilen weit entfernt – “ein wahnwitziger und selbstmörderischer “Aufenthaltsort”, wie ein Kritiker meinte; “Todeswünsche”, mutmaßten andere, hätten ihn dorthin getrieben. “Ich glaube”, sage Kollege V. S. Pritchett über den “verarmten Sahib”, “er war ein Mensch, der einfach leiden wollte.”
Orwell jedoch versicherte: “Es geht mir prächtig hier.” Er bestellte seinen Gemüsegarten, töpferte, zimmerte, bastelte Spielzeug für Richard, machte Marmelade ein, jagte Kaninchen, rupfte Gänse, legte Hummerkörbe aus, schipperte zum Angeln hinaus auf die hohe See und kehre zurück ins kahle, kalte Heim, um weiterzuschreiben an seiner “Utopie in Form eines Romans”. “Der letzte Mensch in Europa” sollte sie heißen; oder auch, in Verdrehung der seinerzeit aktuellen Jahreszahl: “1984”.
“Überall auf der Welt”, kommentierte Orwell sein Werk, “haben sich totalitäre Ideen in den Köpfen der Intellektuellen festgesetzt, und ich habe versucht, diese Ideen logisch zu Ende zu denken.”

Doch in seiner Brust nistete der Tod. Orwell mußte wieder ins Krankenhaus. “Ich hätte”, gestand er ein, “das schon vor zwei Monaten tun sollen, aber ich wollte dieses verdammte Buch erst noch unter Dach und Fach bringen.”

Das Frühjahr 1949 verbringt er in einem Sanatorium im Süden Englands. Sein Roman erscheint im Juni. Im September wird er in die Londoner Universitätsklinik verlegt. Dort heiratet er die Redaktionsassistentin Sonia Brownell. “Ich habe”, so sagt er, “die triftigsten Gründe, am Leben zu bleiben.”
Er stirbt in der Nacht des 21. Januar 1950 an einer Lungenblutung, 46 Jahre ist er alt. Seinem Wunsch gemäß wird er nach dem Ritus der Kirche von England beigesetzt. Sein Grabstein auf dem Friedhof von Sutton Courtenay trägt die Inschrift: “Hier ruht Eric Blair”.

Er war ein komplizierter Mann. Doch was er sich, nach den Worten seines Freundes und Gesinnungsgenossen Arthur Koestler, erträumte, ist einfach zu begreifen: “Niemand sollte arm sein, und niemand sollte bestimmen können, was andere Menschen zu denken und zu tun haben.”

Die Geheimdienste bauten, von liberalen Innenministern gegengezeichnet, ihr Nachrichtensystem Nadis (Nachrichtendienstliches Informations-System) aus. Die Polizei entwickelte ihr Inpol-Datensystem. Sie enthalten zentrale Personen-Indizes, die in Sekunden abgerufen werden können und fast perfekt sind. Aber eben nur fast. Deshalb drängt eine starke Lobby darauf, Zugriff zu den Daten der Sozialversicherung und den gespeicherten Personenbeschreibungen der Finanzämter, die zusammen mehr als 95 Prozent der Bevölkerung erfassen, zu bekommen.

Besondere Datenbanken gehen über rein statistische Angaben hinaus. So speichert das Bundeskriminalamt Fingerabdrücke von über zwei Millionen Personen und 150.000 Handschriftenproben. Vereint können sie im Zeitraum einer Zigarettenlänge aus bruchstückhaften Indizien fast jeden identifizieren und dann auch noch das perfekte Personenbild nachliefern.

Am Ende soll jede Polizeiwache, jeder wohlausgerüstete Streifenwagen in der Lage sein, binnen weniger Minuten über jede Person verläßliche Daten abrufen zu können.
Horst Herold, ein gebildeter Mann, wollte mit seinem elektronischen Superstaat allerdings immer noch den Bürger schützen. Er wollte nicht erst die Verbrechen aufklären müssen, sondern schon die Verbrechensvoraussetzungen. Er wollte eine allumfassende Soziographie, um Verbrechen gar nicht erst entstehen zu lassen.
“Man muß”, sagt Herold in einem gespenstischen Gespräch mit der Monatszeitschrift “Transatlantik”, einen lebenswerten Staat schaffen. Einen Staat der Bürger – einen transparenten Staat. Und den können Sie nur technisch transparent machen. Ja, das ist natürlich ein Sonnenstaat, aber der ist machbar heute. Hier in der Polizei ist das machbar.”

Elektronische Gerechtigkeit? Verblendung, fast Wahn oder das soziale Konzept der Zukunft, die Orwell übertrifft und schon bei Huxley steht?
Bei Huxleys Sonnenstaat ist Wohlverhalten schon in die Gene der Menschen eingebaut – Menschen, die auf Flaschen gezogen und “entkorkt” werden: Vorsorge für ein friedfertiges Leben ohne Konflikte. Die letzte kybernetische Konsequenz von Herolds Computerdenken. Eine Perversion.

“Aus organisationstheoretischen und –soziologischen Überlegungen steht fest”, schreibt der Bremer Rechtsprofessor Wilhelm Steinmüller, “daß Systeme dieser Größenordnung und Kompliziertheit nicht mehr überblickt und kontrolliert werden können ... Damit ist das weitere Fehlverhalten des Sicherheitsbereichs vorprogrammiert und praktisch unausweichlich, unabhängig vom Verschulden Beteiligter. Das technisch-organisatorische Substrat eines ´friendly fascism´harrt seines politischen Mißbrauchers.”
Das in der Welt einmalige deutsche Sicherungssystem, mein Steinmüller, finde seine Parallele im Ausbau der Kernenergie: “Man schafft ein überdimensioniertes Risikopotential und hofft vergeblich auf das Nichteintreten der unvermeidlichen Begleitfolgen.” Großtechnologie, deren äußerstes Sinnbild eine wie wild ausgebaute Atomenergie ist, bringt das Gemeinwesen ganz von selbst zu einem höheren Grad des Totalitarismus.

Großtechnologie, wie sie von ihren führenden Verfechtern betrieben werden soll, ist im Ansatz der Vresorgung des Bürgers gewidmet. Atomkraftwerke liefern eben Strom. Doch die komplizierte Technik führt zur Verselbständigung des Systems. An dessen denkbarem Ende ist es dann nicht mehr für den Bürger da, sondern umgekehrt.
Weil dies untergründig empfunden wird, muß das System nun gegen den Bürger, aber scheinbar zu dessen Nutzen verteidigt und bewacht werden. Wenn es soweit kommt – und bei einer perfekten Atomtechnologie muß es wohl dazu kommen -, ist der Totalitarismus à la Orwell und Huxley da.

Das Unternehmen Atomstaat, wie Robert Jungk ihn beschreibt, würde sich zwangsläufig einstellen, wenn die etwa von dem deutschen Brüter-Professor Wolf Häfele entwickelte Idee einer atomaren Versorgungswelt auch nur in Ansätzen verwirklicht wird.
Häfele hat vorgerechnet, daß bei einer Entscheidung der Menschheit – wer ist das: die Menschheit? – für den atomaren Weg im Jahr 2030 rund 5000, später dann weitere 10.000 Kernkraftwerke dastehen müßten, zumeist in Gestalt von Schnellen Brütern.

Schon die ersten 5.000 Nuklearanlagen sollen 40.000 Milliarden Dollar kosten, eine Zahl mit 13 Nullen, das Vierfache des gegenwärtig auf der Welt vorhandenen Produktivvermögens. Nach einer Vermutung des US-Atomprofessors Alvin Weinberg wird bei Anlage einer solchen Zahl von “Kernenergieparks” alle vier Jahre ein Kernschmelzunfall stattfinden. Mit dem Strahlenrisiko müsse die Menschheit, die dann ja eine andere Menschheit wäre, leben.
Bereits dieses Unfallrisiko bietet eine wohlfeile Begründung für den Aufbau einer weitverzweigten Überwachungsarmee, der die Personenraster des Doktor Herold prächtig zu Diensten sein können. Der “friendly fascism” würde seinen Mißbraucher rasch finden.

Was den Überwachungs-“Bedarf” betrifft, hat die Eigendynamik schon begonnen. Seit 1970 ist der Aufwand für den Verfassungsschutz versechsfacht worden. Der Personalbestand des Bundeskriminalamtes ist viermal so hoch wie 1970, die Polizei der Länder ist um rund 50 Prozent verstärkt worden. In Westdeutschland arbeiten, auf die Bevölkerung bezogen, schon doppelt so viele Polizisten wie etwa in Holland.

Die private Bewachungsarmee kann sich gleichfalls sehen lassen. 900 private Schutzfirmen beschäftigen rund 70.000 Wächter. Für den Werkschutz sind 120.000 zumeist Bewaffnete unterwegs. Die Sicherheitsanforderungen eines Nuklearsystems werden um ein Mehrfaches höher sein. Weinbergs Kernenergieparks müssen zwangsläufig Sicherheitszonen haben wie einst des Führers Wolfsschanze im Zweiten Weltkrieg – und paramilitärisches Bewachungspersonal.
Ganz von selbst müssen Systeme solchen Zuschnitts kontraproduktiv wirken. Je mehr Aufwand die Großtechnologie und ihre Verteidigung, die Bürokratie und ihre Verteidigung schlucken, desto geringer der Lebensstandard des Volkes. Im Bild Orwells, das freilich den alten, billigen Staatskapitalismus der Stalin-Zeit zum Vorbild hatte, ist der Höhepunkt des äußeren Lebensstandards längst überschritten, er liegt vor der Machtübernahme durch die eine Partei. Seitdem hat sich die Welt in einen “armseligen, hungerleidenden jämmerlichen Aufenthaltsort” verwandelt.

Sehr wahrscheinlich, daß Übertreibungen beim Aufbau großtechnologischer Systeme, die durch staatliche Hoheitsakte entstanden sind wie die Nuklearwirtschaft, den Keim des ökonomischen Abstiegs ebenso tagen wie den des totalitären Staats. Diese Gefahren einer postliberalen Zeit lassen sich für totalitäre Staaten nur durch den einen, nicht von Orwell, wohl aber von Huxley vollzogenen Schritt vermeiden: Konfliktbeseitigung durch genetisch Programmierte und durch Psychopharmaka.
In Huxleys schöner neuer Welt arbeiten nach dem griechischen Alphabet abgestufte Menschengruppen unterschiedlicher Intelligenz, deren Zahl genau auf die gesellschaftlich nötigen Produktions- und Verwaltungsvorgänge abgestellt ist. Die Menschen werden künstlich gezüchtet, ihre Gene auf Flaschen gezogen, und zwecks Geburt wird der genormte Mensch dort herausgeholt. Die Alpha-Menschen sind von hoher, die Gamma-Menschen von niedrigerer Intelligenz, die Epsilon-Typen haben gar keine Intelligenz mehr. Die von unten sehnen sich nicht nach dem Statur der oberen und umgekehrt.

Er herrscht folglich Frieden in der Huxley-Gesellschaft, und wenn es zu Spannungen dennoch einmal kommt, helfen “Soma”-Tabletten, und der Mensch verfällt in angenehme Gefühle, Konflikte etwa durch Eifersucht und Kindererziehung finden nicht statt. Persönliche Bindungen gibt es nicht, dafür ausgedehnte Promiskuität.

Die Gesellschaft funktioniert durch ihre Seelen- und Bindungslosigkeit, aber auch sie ist totalitär, weil ihr System von innen und von außen nicht gestört werden darf. Wer sich den Luxus der Individualität leisten will, kommt auf ferne Inseln. Einer der Haupthelden wurde auf die Falklands verbannt.

Die Wirklichkeit ist von solchem Bild nur scheinbar noch weit entfernt. Denn es sind auch hier wieder, wie in Orwells Überwachungsstaat, die technischen Ansätze sichtbar. Die selbstverständliche Raktenfahrt ebenso wie der private Hubschrauber, die Neigung zur Promiskuität ebenso wie die zur äußerlichen Jugendlichkeit bis in den Tod, die Neigung, Konflikte mit Psychopharmaka abzuwürgen, erst recht und der Beginn einer biochemischen Revolution ganz deutlic. Das künstliche Befruchtungen außerhalb des menschlichen Körpers gelangen, mag für die Huxley-Welt eine primitive Vorstufe sein. Doch Wissenschafts-Technokraten sind längst auf dem Weg der Gen-Manipulation.
Daraus ist bereits, in Amerika vor allem, ein ganz neuer Industriezweig geworden. “Genetic Engeneering” heißt er mit hohem Geschmacksempfinden, und gezüchtet werden dort Virus-Kulturen, die einen bestimmten Zweck erfüllen sollen.

James Watson und Francis Crick, die Entdecker der Gen-Strukturen, hatten festgestellt, daß die Erbanlagen in einer Doppelspirale von Molekülen programmiert sind. Diese Erbanlagen lassen sich verpflanzen: Lebenwesen, primitive freilich, können schon jetzt Eigenschaften anderer Lebenwesen einprogrammiert bekommen. Für Biochemiker, vielleicht aber auch für Nationalstaaten und Industrie-Unternehmen, ein faustischer Reiz.

An der Schwelle zum Jahr 1984 hat sich die Menschheit sämtliche Instrumente geschaffe, die stets unter dem Schlagwort “1984” vereint werden. An der Schwelle zu diesem magischen Jahr unterliegen viele der heißen Illusion, zwar die Orwell-, wenn nicht die Huxley-Technik zu beherrschen, sich von ihr aber nicht beherrschen zu lassen.
Doch wo der Ausdruck “herrschen” so locker und selbstverständlich fließt, da ist die zwanghafte Neigung zum Totalitären nicht mehr auszuschließen. Da wirkt die Lust an der Anwendung höher als die Lust an der Freiheit des anderen. Da gerät nicht nur der totalitäre Staat, da driftet selbst ein liberal verfaßtes Gemeinwesen in das unsichtbare Netzwerk von Elektronik und Überwachung, von Reglementierung und Manipulation. Und wenn schon nicht der Staat, dann private Institutionen wie Wirtschaftsunternehmen etwa, die nicht demokratisch kontrolliert werden.

Der Bonner Historiker Karl Dietrich Bracher, einer der profiliertesten Erforscher totalitärer Systeme, hat die Bedingungen genannt, unter denen totalitäre Herrschaft nach dem Muster des Orwell-Staates entsteht. Sie sind leicht aufgezählt, in jeder westlichen Demokratie vorhanden und damit auch in der deutschen.

Die primäre Totalitarismus-Bedingung ist nach Bracher der Industrialismus und die Technologie. Deren Wuchern bilde die eigentliche Basis jeder totalen Herrschaft. Industrialismus und Technologie aber sind die Hauptgötzen auch der westlichen Demokratien.

Als weitere Bedingungen hat Bracher, im Zusammenhang mit Arbeiten über den Nazi-Staat, politische Unerfahrenheit, geringes Vertrautsein mit den Funktionsweisen parlamentarischer Demokratie, mächtige obrigkeitsstaatliche Reste und große Entscheidungsspielräume der Kritiker wie der Gegner des demokratischen Staatswesens erkannt.
Industrialismus und Technologie zumindest sind den Deutschen eingegeben, ebenso wie obrigkeitsstaatliche Rückfälle. Sie werden, von der konservativen Regierung in Bonn, eher gefördert als gemindert. Sie werden, deutlicher gesagt, sogar mit Eifer fortgeschrieben. Sie gelten, mehr noch, als Lösungskerne für den gedeihlichen Fortschritt.
1982, noch bis zum Kanzlersturz, besaß die Bundesrepublik Deutschland den Innenminister Gerhart Baum, der den Überwachungsstaat begrenzen, wenn nicht abbauen wollte. Baum wurde von seinen konservativen Gegnern als Sicherheitsrisiko eingestuft.

1983 besitzt die Bundesrepublik den Innenminster Friedrich Zimmermann, der den Überwachungsstaat wieder stärken will, dessen Staatssekretär Karl-Dieter Spranger erklären darf, den Datenschutz auflockern zu wollen. Datenschutz, so die Kurzformel, sei Tatenschutz – also Täterschutz.

1984 schließlich, als hätte es der 1950 verstorbene Orwell aus dem Grabe bestellt, werden Westdeutschlands Bürger ihre neuen EDV-gerechten Bundespersonalausweise bekommen – abtastfähig von den elektronischen Geräten der Polizei und des Zolls, die sämtlich verbunden sind mit dem Zentralcomputer des Bundeskriminalamts in Wiesbaden.

Der Große Bruder ist elektronisch geworden. Es gibt ihn nicht, aber er ist da.