DER SPIEGEL 2. Bericht über den Ausstieg aus Gewissensgründen von Bernd Joschko (Schmidt) im August 1984
"Wie mit menschlichen Sinnen"
Sebastian Cobler über die neue Welt der Polizeicomputer
Der Frankfurter Rechtsanwalt und Publizist Sebastion Cobler, 36, war einer
der Kläger gegen das Volkszählungsgesetz.
Horst Herold, vor dreieinhalb Jahren pensionierter Präsident des Bundeskriminalamtes
(BKA), war wieder einmal seiner Zeit voraus: Während er sich als Amtschef
noch damit begnügen musste, von der „gesellschaftssanitären
Rolle der Polizei“ zu träumen, konnte er jetzt als Referent eines
von der hessischen Landesregierung einberufenen Symposiums über „Informationsgesellschaft
oder Überwachungsstaat“ die nunmehr greifbar gewordenen technischen
Möglichkeiten der kommenden Computergeneration verkünden:
Die Rechner „sollen lernen, assoziieren, logisch schließen können
und fähig sein, aus vorhandenem Wissen neue Aussagen abzuleiten“.
Sie werden “klein, transportabel und billig sein; sie werden in der Lage
sein, Informationen wie mit den Sinnen eines Menschen zu erfassen: als gesprochene
Sprache, gelesene Schriften, gesehene Menschen“. Es könnte „technisch
möglich werden, die Fahndung nach gesuchten Straftätern unmittelbar
auf Maschinen zu übertragen“.
Herolds Beispiele: Die Überwachung eines gefährdeten Hauses durch
einen Rechner, „in dem die Bilder Top-Terroristen gespeichert sind; der
Rechner lässt Unbeteiligte passieren, verständigt aber die Polizei,
wenn er den Gesuchten erkennt. Oder: Ein gesuchter Mörder, dessen Stimme
im öffentlichen Telefonnetz gespeichert ist, wird beim Telefonieren erkennt“.
Die „enormen Fortschritte“ in der technischen Entwicklung „lassen
erwarten, dass diese noch utopisch anmutenden Eigenschaften“ künftiger
Informationssysteme „gegen Ende des Jahrzehnts verfügbar sind –
keineswegs Science-Fiction, sondern machbar“.
Die schöne neue Welt der Polizeicomputer, gab Herold warnend und sichtlich
zur Verärgerung seiner einstigen Kollegen zu bedenken, eröffne „beklemmende
Aspekte“: Das „denkbare Umkippen“ nämlich „in totalitäre
Formen der Digitalisierung beliebig großer gesellschaftlicher Gruppen“.
Zur selbe Stunde, als Herold sich im Gebäude des Hessischen Landtages über
die Risiken und Chancen der für 1990 angesagten „Rechner der 5. Generation“
ausließ, musste sich, einen Steinwurf weit entfernt, ein anderer Ehemaliger
des BKA vor dem Wiesbadener Landgericht gegen die Anklage verteidigen, Dienstgeheimnisse
des Bundeskriminalamtes über die dort betriebenen „Rechner der 4.
Generation“ verraten und „dadurch wichtige öffentliche Interessen
gefährdet“ zu haben:
Bernd Schmidt, 33 Jahre alt und von Oktober 1979 bis März 1982 Physikingenieur
im Kriminalistischen Institut des BKA, hatte Ende 1982 den SPIEGEL und später
auch die Tageszeitung „taz“ über die Video-Fahndung der Polizei
ins Bild gesetzt (SPIEGEL 2/1983)
Der BKA-Aussteiger Schmidt enttarnte die zuvor von ihm für seinen einstigen
Arbeitgeber entwickelte computergestützte Video-Observation als die bislang
wohl raffinierteste Technik polizeilicher Prävention.
Ein ausgeklügeltes System versteckter Kameras und Sender – testweise
installiert im Umfeld der Dienstvilla des von RAF-Anschlägen bedrohten
US-Generals Frederick J. Kroesen, aber auch an öffentlichen Brennpunkten
wieder Fußgängerpassage unter dem Frankfurter Hauptbahnhof und dem
Postamt an der “Zeil“ – sollte eine möglichst permanente
und lückenlose optische Erfassung von Veränderungen in den gewöhnlichen
und deshalb scheinbar unbeachtlichen Verhaltensweisen von Anwohnern, Passanten,
Autofahrern und Einkaufsbummlern möglich machen.
Die ständige Beobachtung, Registrierung und Auswertung der alltäglichen
„Normalität“, dies war der Kern der BKA-Idee, würde den
Blick freigeben auf „polizeirelevante“ abweichende Verhaltensweisen.
Mit den Worten des BKA-Kriminaldirektors Bodo Zabel: „Das Erkennen verdächtiger
Umstände ist nur unter der Voraussetzung möglich, dass dem Beobachter
das „Normalbild“ des Beobachtungsraumes vertraut ist.“
Wie zuvor schon andere zur Terrorismusbekämpfung ergriffene Fahndungsmaßnahmen
entpuppte sich auch die Video-Show des BKA als ausbaufähiges Instrument
sozialer Kontrolle. Zahllose Bürger, gegen die nicht der leiseste Verdacht
bestand, gerieten zwangsläufig in das Visier und auf die Bänder des
BKA; sie sollen inzwischen wieder gelöscht worden sein.
Der Rechtsbruch ist evident. Auf den Kopf gestellt wurde das „Grundgesetz“
jeder rechtsstaatlich begrenzten Polizeiarbeit. Nicht mehr eine konkrete personenbezogene
Gefahr lieferte den Anlass für den Einsatz, sondern ein diffuses Sicherheitsrisiko.
So heißt es in einem schriftlichen Auftrag der BKA-Abteilung „Terrorismus“
für eine Video-Observation ganz unverblümt: Über die „Zielpersonen“
lägen dem Amt zwar „umfangreiche Erkenntnisse in staatsabträglicher
Hinsicht“ vor; sie reichten aber nicht aus, „um gegen die Betroffenen
ein Ermittlungsverfahren einzuleiten oder gar Exekutivmaßnahmen zu ergreifen“.
Der Observationstrupp wurde deshalb angewiesen, das fehlende „entsprechende
Hintergrundwissen“ dadurch zu erlangen, dass die „Zielpersonen“
über einen längeren Zeitraum „unter Kontrolle gehalten“
– lies: ausgeforscht – werden.
Die Verflüchtigung jedes konkreten Verdachts zugunsten einer Orientierung
an „Risikopersonen“ oder –gruppen ist längst nicht mehr
bloß typisch für polizeiliche Präventionskonzepte. Die Methode
wird derweilen von Personalverwaltungen, Krankenkassen, Kaufhäusern und
Banken erfolgreich imitiert, so dass man von einer Art sozialer Rasterfahndung
sprechen kann.
So werden die Kreditwürdigkeit und das Konsumverhalten potentieller Kunden
mit Hilfe von Wirtschaftsauskunfteien durchgecheckt, ein Verfahren, das mit
der stetigen Zurückdrängung des Bargeldes durch Schecks, Kreditkarten
und bald schon durch den Kauf per Kabelfernsehen ständig verfeinert wird
und langfristig die „Anonymität des Marktes“ verloren gehen
lassen wird.
Personalchefs zumindest größerer Betriebe können über elektronisch
geführte und aktualisierte Fehlzeitenstatistiken und Befähigungsnachweise
bei Umsetzungen, Beförderungen und Entlassungen problemlos „zuverlässige“,
„leistungsgeminderte“ und „schwierige“ Angestellt aussondern.
Einige Krankenkassen planen, zu teuer gewordene sogenannte Problempatienten
über eine turnusgemäße Durchforstung der ärztlichen Abrechnungsunterlagen
dingfest zu machen und zu „ermahnen“ oder, ähnlich dem bewährten
Bonus-Malus-System der Automobilversicherer, zur Kasse zu bitten.
Allen diesen Präventionsprogrammen ist neben der Methode auch das Ziel
gemeinsam, die beständig durchgesiebten „Alltagsdaten“ der
„Normalbürger“ als Quelle der Information und als Mittel der
rechtzeitigen Steuerung und Korrektur „Sozialwidriger“ Verhaltensweisen
auszunutzen.
Von daher ist die hier und da geübte Geheimnistuerei über diese Art
der vorbeugenden Kontrolle eigentlich verfehlt, weil das erwünschte Sozialverhalten
sich im Idealfall ohne Druck einstellen soll – sozusagen aus freien Stücken,
was wiederum das Wissen um die Existenz derartiger Methoden geradezu voraussetzt.
In welchem Ausmaß die Persönlichkeitsrechte beliebiger Bürger
durch solche flächendeckenden Fahndungsformen gezielt und systematisch
missachtet werden, schilderte der ehemalige BKA-Ingenieur Schmidt nun vor dem
Wiesbadener Landgericht.
Als Beispiel
wählte er die Video-Observation jener etwa 120.000 friedlichen Demonstranten,
die am 14. November 1981 in der hessischen Landeshauptstadt gegen den Ausbau
des Frankfurter Flughafens demonstriert hatten. Über mehrere Kameras wurden
die Versammlung und die Kundgebung aufgezeichnet, eine Technik, die es auch
erlaubte, Porträt-Aufnahmen einzelner Demonstranten zu „schießen“
und – bei Bedarf – dann auszuwerten: als riesige elektronische Lichtbildmappe
der politischen Polizei.
Der BKA-Ingenieur Schmidt fand an der ihm übertragenen Aufgabe zunächst
Gefallen, später kamen ihm Bedenken; er quittierte den Dienst.
Seine Fragen nach der Rechtsgrundlage der von ihm vorbereiteten und später
dann „verratenen“ optischen Rasterfahndung müssen nun die Richter
der Wiesbadener Strafkammer beantworten. Sie wollen ihr Urteil am Freitag dieser
Woche verkünden.
Bernd Schmidt kann wegen „Geheimnisverrats“ dann nicht belangt werden,
wenn er mit den BKA-Methoden „illegale Staatsgeheimnisse“ veröffentlicht
haben sollte – Vorgänge also, die ihrerseits auf illegalen Praktiken
beruhen und deshalb keinen Schutz verdienen. Das Video-Spektakel des BKA aber
wurde ohne jede Rechtsgrundlage praktiziert – getreu der Devise: Wo eine
Aufgabe ist, da gibt es auch die Befugnis.
Die Sammlung nicht anonymisierter Daten auf Vorrat, gleichsam ins Blaue hinein,
ist überdies vom Bundesverfassungsgericht im Volkszählungsurteil 1983
„strikt“ untersagt worden.
Schon jetzt ist freilich abzusehen, dass die Polizeistrategen ihre einmal eingenommenen
Bastionen nicht kampflos räumen werden. Die Debatten während des Wiesbadener
Symposiums über „Informationsgesellschaft“ und „Überwachungsstaat“
haben deutlich gemacht, dass die Funktionäre der Polizei, nachdem der erste
Schrecken über das Verdikt aus Karlsruhe verflogen ist, alles daransetzen
werden, den derzeitigen rechtlosen Zustand polizeilicher Prävention zu
legalisieren – das heißt: seine Normalisierung durch Normierung
zu betreiben. Die Sollbruchstellen für den Datenschutz sind damit bereits
programmiert.
Schon einmal wurde einem Informanten des SPIEGEL der Prozess wegen „Preisgabe
von Staatsgeheimnissen“ gemacht, dem Mitarbeiter des Bundesamtes für
Verfassungsschutz Werner Pätsch, der 1963 illegale Telefonabhörmaßnahmen
dieser Behörde dem SPIEGEL offenbart hatte.
Der Bundesgerichtshof hatte damals geurteilt, dass die Öffentlichkeit nur
dann „unmittelbar angerufen“ werden dürfe, wenn schwere Gesetzes-
und Verfassungsverstöße von Behörden anzuprangern sind.
Der BKA-Überläufer Schmidt soll gleichwohl, wenn es nach dem Wiesbadener
Staatsanwalt Greth geht, ein Jahr und neun Monate hinter Gitter. Ankläger
Greth will ermittelt haben, dass „durch die Preisgabe seitens des Angeschuldigten
wichtige öffentliche Interessen gefährdet“ worden seien.
Der vom Gericht hierfür als „sachverständiger Zeuge“ vernommene
BKA-Kriminaldirektor Zabel musste indes passen. Er ergriff die Flucht nach vorn
und bemühte sich, den aufgeflogenen Fahndungs-Coup seiner Behörde
zu bagatellisieren: Die Schmidtschen Video-Anlagen hätten überraschenderweise
die „in sie gesteckten Erwartungen“ gar nicht erfüllt; die
abzubildende Wirklichkeit sei „für unsere Technik“ einfach
zu komplex – „bedauerlicherweise“, wie der BKA-Sachverständige
in eigener Sache anmerkte, „so schön ist die Technik nicht, noch
nicht“.